Der bittere Geschmack der Freiheit

Osttimor: In der Werkstatt der jüngsten Nation der Welt

Osttimors erste Briefmarke zeigt eine gebirgige Insel, auf der ein Menschlein steht und seine Arme einem sphärischen, pastellfarbenen Himmel entgegenreckt. Abends, wenn in der Bucht von Dili die Sonne blutrot im Meer versinkt, wirkt alles ein wenig so wie auf der Briefmarke. Junge Männer flanieren händchenhaltend am Strand, unter dem Arm die Gitarre, auf langem Haar die schwarze Baskenmütze wie der junge Che Guevara. Dann fällt Finsternis über die jüngste Hauptstadt der Welt; kein Strom, keine Straßenbeleuchtung. Dies ist die Stunde der Depression.

Flüsternd verhöhnt die Dunkelheit den Effizienzwahn der humanitären Armada, die hier schon zwei Jahre vor Anker liegt: UN-Blauhelme und Zivilisten aus 32 Ländern, plus circa 70 Hilfsorganisationen. 15 000 Menschen guten Willens mit Allradfahrzeugen, Computern und Sattelitenantennen wollen dem geschundenen Osttimor auf die Beine helfen. Und immer noch sind die Telefone tot in den Dörfern.

Dabei ist Osttimor so klein, eine halbe Insel nur, mit 750 000 Einwohnern. Man muss die Geschichte kennen, um zu verstehen, warum ein solch kleines Fleckchen Erde unbedingt ein Staat sein will im Zeitalter der Globalisierung.

Jahrhundertelang stritten sich die Kolonialmächte Portugal und Holland um die Insel Timor, schließlich zogen sie eine Grenze mittendurch. Hollands Westteil wurde 1949 indonesisch, der Osten hingegen blieb portugiesisch bis 1975. Da zog sich Portugal zurück, Osttimor erklärte sich hastig für unabhängig - und Indonesien  marschierte ein. Die Weltgemeinschaft protestierte beiläufig und schaute nicht weiter hin, wie in Osttimor gekämpft und gestorben wurde für den Traum der Freiheit. 1999 endlich durften die Osttimoresen über ihre Zukunft entscheiden, sie bekamen ein Referendum, sie stimmten für die Unabhängigkeit - und niemand schützte sie vor den Folgen. Paramilitärische Banden, vom indonesischen Militär orchestriert, legten diese halbe Insel in Schutt und Asche.

Das ist die Vorgeschichte der humanitären Armada, sie wird gesponsert vom schlechten Gewissen. Lange war Osttimor der Welt egal, nun muss etwas draus werden, ein Modell, ein Musterstaat. Nation-building, eine Nation ausbrüten unter`m Blauhelm - was für eine beängstigend großartige Aufgabe.

Einen Staat aufbauen aus dem Nichts. Kein Parlament da, keine Verfassung, alles muss neu erfunden werden. Und was da war, war zerstört: Häuser ausgebrannt, Geschäfte geplündert, alle Schulen kaputt. Keine Glühbirne zu finden, kein Päckchen Nudeln. So sah es aus, als die Blauhelme kamen.

In der Morgensonne ziehen sich über Osttimors grüne Hügel Ketten glitzernder Punkte: Das sind die neuen Wellblechdächer, zigtausend wurden verteilt, Notlinderung in einem zuvor dachlos gewordenen Land. Kaum jemand hungert mehr, die Schulen nehmen ihren Betrieb auf (mit Dach); vieles ist besser geworden. Doch hat der Ansturm humanitärer Helfer dieser kleinen, embryonalen Gesellschaft auch den Stempel eines neuen Kolonialismus` aufgedrückt. Ein Kolonialismus des guten Willens, der Personalstärke und des Geldes. Ein Osttimorese verdient, wenn er Glück hat, vier Dollar am Tag, einem UN-Bediensteten steht das 25fache allein für Spesen zu.

Das „Café City" in Dili ist ein seltsam außerirdischer Ort. Umgeben von Ruinen wird hier Capuccino auf schicken silbernen Metalltischen serviert; ein Treffpunkt der humanitären Ausländer, niemand sonst kann sich die Preise leisten. Gegenüber starrt ein ehemaliges Mopedgeschäft aus toten Fensterhöhlen; auf die Mauer hat jemand „help me!" geschrieben. Ein magerer Osttimorese mit zerlumpter Hose schiebt ein Holzwägelchen mit Zigaretten durchs Bild.

Zwei Welten, zwei Ökonomien: Osttimors offizielle Währung ist jetzt der US-Dollar, aber die Armen handeln weiter in indonesischen Rupiah, während in den Refugien der Ausländer und  im neuen Supermarkt „Hello Mister" der australische Dollar gilt. Die Preise sind explodiert, selbst für Reis und Nudeln; abends streichen Straßenjungs bettelnd um die Allrad-Fahrzeuge. Neue Geschäfte bringen Leben in die Ruinen; sie gehören Australiern, Singapurern.

Die Gemüsehändlerin Candida verbringt seit fast einem Jahr jede Nacht auf einer zerrissenen Bastmatte in ihrem Marktstand. Ihr Haus wurde von den Militias zerstört, und am Verkauf des Gemüses verdient sie wegen der Preissteigerungen fast nichts mehr. Aber wenn man sie fragt, ob die Unabhängigkeit  soviel Plage wert sei, dann bleckt sie empört ihre vom Betelnusskauen rot gefärbten Zähne: Was für eine Frage! „Wir haben doch immer dafür gelitten, die Freiheit zu bekommen!"

Die UN-Verwaltung hat Mühe, die Mentalität der Osttimoresen zu begreifen. Eine Mentalität, die durch jahrhundertelange Kolonisierung und durch opferreichen Widerstand gleichermaßen geprägt ist. Stolz, Mut, Leidensbereitschaft und Geduld waren Qualitäten im Widerstand; aber Initiative zeigen, Selbstverantwortung oder ein Gespür für Effizienz, das wurde von den Unterdrückten nie verlangt. In den 24 Jahren indonesischer Besatzung waren den Osttimoresen alle höheren Posten verwehrt: Sie durften Polizist sein, aber nicht Polizeioffizier; Grundschullehrer, nicht Oberschullehrer; sie durften zwar Jura studieren, aber nicht als Anwalt oder Richter arbeiten. Osttimor hat heute nur 16 einheimische Ärzte.

Im Fußballstadion von Dili feiern Tausende mit einem Rockkonzert den Abschluss einer Kampagne zur „Bürgererziehung": Sie sollte die Osttimoresen aufklären über die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung, der entscheidende Schritt zur formellen Unabhängigkeit. „Zeigt der Welt, wie wichtig euch Demokratie ist!" ruft ein Sänger, und das ganze Stadion schwenkt jubelnd grüne Fähnchen mit dem Slogan „Frieden, Toleranz und Demokratie". Eine alte Frau hält ihr Papierfähnchen stumm und feierlich hoch wie eine Kerze. Welch eine bizarre Verkehrung der Ereignisse: Beim blutigen Referendum 1999 standen die Osttimoresen unter Todesgefahr Schlange, um ihre Stimme abzugeben; nun gleichen sie Schulkindern, denen gezeigt wird, wie Demokratie funktioniert.

Der Bauer Agustino Araujo hat acht Häufchen Tabak fein säuberlich auf einer Matte zum Verkauf arrangiert. Auf die Frage, wie viel Land er bebaut, zeigt er mit der Hand: von hier bis zu dem Baum da. Auf die Frage, wie alt er ist, grinst er zahnlos und verlegen: Er weiß es nicht. Und das Flugblatt, das ihm die erste freie Wahl seines Lebens erklärt, hält er falsch herum: Er kann nicht lesen. Der Bauer Araujo hat die portugiesischen Kolonialherren erlebt, die indonesischen Besatzer, den Blutrausch der Militias; er wußte immer, was er wollte: Freiheit, Independencia. Nun ist er mit 968 Kandidaten aus 16 Parteien für eine Verfassungsgebende Versammlung konfrontiert.

Aus Sicht der UN ist die Entstehung eines Mehrparteien-Systems ein Beweis des Erfolgs: westliche Demokratie, Osttimor soll kein Kuba werden. Für viele Osttimoresen hingegen beschwört die Konkurrenz politischer  Parteien  eine angstvolle Erinnerung: Als Portugal die Kolonie überstürzt verließ, brach zwischen den Fraktionen des Widerstands ein Bruderkrieg aus; für Indonesien ein Vorwand zur Invasion. „Einheit" ist darum ein magisches Wort in den Palmstrohhütten der Dörfer; Einheit ist wichtiger als alles andere. Die  Kultur des Widerstands kannte nur Vertrauen oder Verrat, Leben oder Tod, und im Zweifelsfall Flucht in die Berge. Da war kein Platz für jene fein dosierte Bürgerbeteiligung, die nun in eiligen Kursen vermittelt wird.

Die UN verbucht Erfolge in Zahlen: 37 000 bei den Anhörungen zur Verfassung, 100 000 beteiligt an Bürgererziehung, 5500 Dorfvorsteher geschult. Aber wenn man auf einem ländlichen Markt die Betelnussverkäuferinnen fragt, was sie von dieser Wahl erwarten, dann wissen sie gar nichts zu antworten. Immer größer wird die stumme Gruppe, bis sich ein Mann nach vorne drängt, um für die Frauen zu sprechen. Er sagt nur einen Satz: „Wir beten, dass nichts Schlimmes passiert."

So nimmt das Experiment im UN-Labor eine gleichsam ironische Wendung. Die Furcht vor einer komplizierten, als fremd empfundenen Demokratie wird jener Revolutionären Front zum überwältigenden Sieg verhelfen, die auch ohne alle UN-Supervision das Land führen würde. „Fretilin", einst der zivile Arm der Unabhängigkeitsguerilla, hat die vertraute Aura von Heldentum und Leidenserfahrung. Wahlkundgebung in einem Dorf: Mit erhobener Faust  wird die alte Parteihymne gesungen: „Steht auf, es kommt der neue Tag....". Dann wird feierlich die Fahne gehisst, das ganze Dorf zieht die Mützen. In den 24 Jahren indonesischer Besatzung starben 250 000 Menschen, das ist unvorstellbar viel, ein Viertel der Bevölkerung. Die Flagge des Widerstands zu besitzen, konnte das Todesurteil bedeuten. Darum wird heute in diesem Dorf  ein altes Ehepaar von den Jüngeren mit Dankesküssen überhäuft: Die Beiden haben das schüttere Fahnentuch, das nun da oben weht, zehn Jahre in ihrem Haus versteckt, und als das Haus niedergebrannt wurde, vergruben sie die Fahne im Garten.

Die UN-Verwaltung hat ihre Zeitung „Tais Timor" genannt, nach den handgewebten Stoffen timoresischer Tradition. Aber das Gewebe dieser Gesellschaft ist den Administratoren fremd geblieben. Patriarchalisch und abergläubisch, stolz und ungebildet, heroisch und phlegmatisch - die Osttimoresen sind nicht die erwarteten Musterschüler dieser internationalen Mission. Ein latentes Ressentiment gegen „die Fremden" durchzieht heute das Land, entlädt sich manchmal gewalttätig. Ein Australier bezahlte für die Liebesbeziehung zu einer Einheimischen mit dem Leben.

In den zwei Jahren fürsorglicher Belagerung sind die Osttimoresen kaum dazu gekommen, Konflikte um die Zukunft ihrer jungen Nation unter sich auszutragen. Symbolisch: Wenn an einer Straßenkreuzung mehr als fünf Autos auftauchen, wird ein UN-Polizist hingestellt, den Verkehr zu regeln. Bisher nährte der Kampf gegen Unterdrückung das Nationalbewusstsein; nun muss ein Völkchen, das sich in 32 Dialekte aufteilt, seine Identität neu bestimmen. Portugiesisch wird die Amtssprache des neuen Staats; das war eine Entscheidung der Älteren, für sie ist Portugal und Portugiesisch Teil ihrer Geschichte ist; auch soll das christliche Osttimor so eine schmale Brücke nach Europa haben. Die meisten Jungen aber müssen die neue Amtssprache erst noch lernen.

Die Abwehr ausländischen Einflusses hat viele Gesichter. Der 28jährige Musiker Ego Lemos hat seine Rockgitarre gegen traditionelle Instrumente eingetauscht. „Gerade jetzt, wo durch die Globalisierung so viele ihre kulturellen Wurzeln vergessen, müssen wir unsere eigene Kultur, unseren Kampfgeist und unseren Nationalismus wach halten." Der Journalist Nuno Rodriguez klagt: „Wir hatten Peoples Power, Volksmacht; jetzt sind wir abgesunken zu einem Fall für internationale Hilfe." Und Bischof Belo, der einst den Friedensnobelpreis bekam für den gewaltlosen Widerstand der katholischen Kirche, wird bereits wütend, wenn er nur das Stichwort Verhütung hört: „Wir dürfen nicht der Propaganda von außen folgen, der westlichen Kultur, der Weltbank! Was ist schlecht an einer hohen Geburtenrate?!"-

Wie ein Sandgebläse fegt der Wind durch ein Militärlager in hitzetrockener Einöde. Sand überall, Sand zwischen den Zähnen, doch lieber schlucken Osttimors erste Soldaten Sand, als einen ehemaligen Stützpunkt der Indonesier zu benutzen. Die Armeeschule: Stolz und Misere einer winzigen Nation bündeln sich an diesem kargen Ort.  Noch kein Buch in der Bücherei, komplett leer die Krankenstation, kahl der Klassenraum. Die Ausbilder sind australisch, die Uniformen portugiesisch, die Rekruten ehemalige Guerilleros. Es bedurfte einer langen Debatte,  bis die UN akzeptierte, was den meisten Osttimoresen selbstverständlich schien: Die Kämpfer aus den Bergen sind Kern einer „nationalen Verteidigungsstreitkraft". Eine Mini-Armee - im sogenannten Endausbau werden es 1500 Soldaten sein. Indonesien, der mächtige Nachbar, hat fast so viele Männer unter Waffen wie ganz Osttimor Einwohner zählt. Die halbe Insel ist unverteidigbar, wenn der letzte Blauhelm abgezogen ist. Versöhnung mit dem eben noch verhassten Nachbarn wird allein schon durch einen Blick auf die Landkarte zwingend.

Im frisch renovierten Gerichtssaal von Dili tragen alle Anwesenden Kopfhörer; Simultanübersetzung. Der Vorsitzende Richter ist Brasilianer, der Ankläger Brite, der Verteidiger Franzose. Jeder hat einen einheimischen Beisitzer. Einheimische sind auch die zehn Angeklagten, lässige junge Männer in T-Shirts und Jeans. Sie sollen Handlanger des indonesischen Militärs bei Mord und Folter gewesen sein. Viele Angehörige der marodierenden Militias waren in der Tat Osttimoresen, teils freiwillig, teils gezwungen. Diese hier sollen gefoltert haben, während Fernseher liefen, sagt ein Zeuge. Der brasilianische Richter schreibt das in seinen Laptop und ermahnt den Franzosen auf englisch: „Stellen Sie einfache Fragen. Das sind einfache Leute hier." Der Zeuge sagt zum Brasilianer: „Ihre Sprache ist zu kompliziert für mich." Der Franzose verlangt eine neue Batterie für sein Mikrophon. Es sitzen kaum einheimische Zuhörer im Gerichtssaal.

Noch viele Tage, Wochen und Monate wird hier verhandeln werden. Die Suche nach Gerechtigkeit, die Ahndung der 1500 Morde während der Bluttage nach dem Referendum produziert ein grotesk unausgewogenes Ergebnis. Osttimoresische Handlanger werden angeklagt und verurteilt, die indonesischen Drahtzieher der Verbrechen kommen ungeschoren davon. In Dili schreiben Brasilianer, Franzosen, Briten 296 Anklagen; die mutmaßlichen Täter sitzen auf der anderen Seite der neuen Staatsgrenze und grinsen. Achselzuckend ignoriert Indonesien die Haftersuchen der Vereinten Nationen.

Die Mühen der Ebene:  Osttimor vollzieht nun eine Lehre nach, die größere Länder nach dem Abschütteln kolonialer Herrschaft vor 30, 40 oder 50 Jahren gemacht haben. Die Erwartungen an die Zeit der Freiheit sind riesig; die Realität enttäuscht. Im Falle dieser halben Insel hat das Heer der Humanitären noch dazu beigetragen, unerfüllbare Hoffnungen auf Wohlstand und Beschäftigung zu wecken. „Der Geschmack der Freiheit ist bitter", sagt Xanana Gusmao, der Anführer des Widerstands, der erste Präsident Osttimors. Das Menschlein, das auf der Briefmarke seine Arme einem sphärischen Himmel entgegenreckt, hat auch diese Bedeutung: Osttimor wird noch lange internationale Hilfe brauchen.  -

Nachtrag:
Seit dem Ende der UN-Übergangsverwaltung im Mai 2002 ist Osttimor vollends unabhängig. Kaffee-Export ist gegenwärtig die einzige nennenswerte Einnahmequelle des jungen Staats. Ab 2005 erwartet Osttimor 100 Millionen Dollar pro Jahr aus der mit Australien vereinbarten Ausbeutung von Öl- und Gasvorkommen in der Timor See; das entspricht der Höhe des derzeitigen Staatsaushalts. 2003 lebten 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von 55 Cent pro Tag. Nach der drastischen Reduzierung des UN-Personals stieg die Arbeitslosigkeit, die Wirtschaft schrumpfte. Der indonesische Polizeikommandant während der Mordwelle 1999, in Osttimor der Verbrechen gegen die Menschlichkeit  angeklagt, wird im Dezember 2003 Polizeichef der Unruheprovinz Papua.