Pol Pot war ein schöner Mann
Kamboscha: Eine Reise auf den Spuren des Genozids
Eine Blüte ist auf das Folterbett geweht; weiß liegt sie auf rostigem Gestell. Eine schmierige Decke, eiserne Fußfesseln und der Batteriekasten für Elektroschocks. Durch das offene Fenster dringt Kinderlachen herein. Draußen toben kleine Mädchen mit fliegendem Haar über die Wiese, ohne Scheu vor den Relikten des Grauens hier drin.
Tuol Sleng, das Völkermord-Museum in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh, ist ein Ort wie aus der Zeit gefallen. Einst eine Schule, dann das schlimmste Gefängnis der Khmer Rouge; von 14000 Häftlingen überlebten sieben. Die rostigen Gestelle, die Batteriekästen, alles steht so herum, wie eben verlassen. Wie die Vietnamesen es vorfanden, als sie 1979 das Pol-Pot-Regime stürzten. Auch die kargen Beschriftungen tragen die politische Handschrift der Vietnamesen: „Pol-Pot-Clique", als sei nur ein Häuflein Renegaten abgewichen vom rechten Weg.
Fast zwei Millionen Menschen starben in den vier Jahren eines totalitären agrarkommunistischen Experiments. Mehr als 20 Jahre später hat die Khmer-Rouge-Zeit noch immer keinen Platz gefunden im nationalen Gedächtnis Kambodschas. In Tuol Sleng, dem einzigen Museum, spürt man das Vakuum zuerst. Das Gelände ist jetzt umzäunt - vorher hatten sich Wohnungslose an dieser Stätte des Leids angesiedelt. Gegenüber steht eine neue prächtige Villa; ihre Besitzer blicken jeden Tag auf das Holzgerüst, von dem aus die Opfer kopfüber in den Wassertrog gesenkt wurden.
Die Haare von Vann Nath haben das intensive Weiß der schockartigen Bleiche. Er ist einer sieben, die überlebten. Ein Maler, er malte im Gefängnis um sein Leben, Bilder von Pol Pot in Serie. Das Buch, das er darüber schrieb, ist nur in englischer Übersetzung erschienen, nicht in Khmer, der Sprache Kambodschas. „Kein Markt dafür, kein Geld", sagt Vann Nath. Wir sitzen auf seiner Dachterrasse, er ist 55 jetzt und ein wenig müde. Er hat auch den Horror gemalt, später. Exakt realistische Bilder, vor denen man die Augen zusammenkneifen möchte wie ein Kind beim Gruselfilm: Die Technik des Armeinklemmens beim Herausreißen der Fingernägel.
Es gibt kein einziges Geschichtsbuch in Khmer über den Völkermord. Gäbe es eines, könnten es 40 Prozent der Kambodschaner nicht lesen, so hoch ist die Rate der Analphabeten. Schulbücher? In der Zeit vietnamesischer Besatzung hatten sie ein paar Seiten über die Pol-Pot-Clique. Ab 1991, als die sogenannte Politik nationaler Versöhnung begann, war das Thema Khmer Rouge im Unterricht tabu. Erst seit kurzem kommen neue Bücher in die Schulen. Jeder zweite Kambodschaner ist jünger als 18 Jahre; für die meisten Nachgeborenen ist der Genozid nur oral history, Familienerzählung. Zu ungezogenen Kindern sagen Ältere manchmal: Ihr benehmt euch wie die Khmer Rouge.
Wie ein gestaltloser Schatten liegt die Pol-Pot-Zeit über dem Land. Ein Tribunal gegen die verbliebenen Führer der Khmer Rouge würde dem Schatten Konturen geben, das Schweigen zerreißen. „Während die jüdische Antwort auf den Holocaust die Betonung der Erinnerung ist als ein Akt der Katharsis, hat sich in Kambodscha bisher nichts Vergleichbares entwickelt", schreibt der Sozialpsychologe Seanglim Bit.
Ein Viertel der Bevölkerung verhungert oder erschlagen; Tod war allgegenwärtig im Land der Killing Fields. 1979 gingen die Menschen mit ihren zerstörten Seelen wieder aufs Reisfeld, flickten die Hütten aus Palmstroh. Der Nachbar, der Onkel war vielleicht bei den Khmer Rouge gewesen, auch er kam zurück, flickte seine Hütte, man sprach nicht viel. Unzählige Kinder hatten mitangesehen, wie ihre Liebsten vor ihren Augen starben. Manche Opfer waren am Ende den Tätern ähnlich geworden, sie zerhackten ihre gefangenen Peiniger in blutrünstigen Hass.
Wer heutzutage sein Moskitonetz zu laut annagelt, bekommt leicht vom Nachbarn ein Messer in den Rücken. Beim Einparken eine Schramme verursacht - Bauchschuss. Der Dieb eines Mopeds wird auf offener Straße gesteinigt. Säureattentate auf Hochzeitspaare sind grausame Mode geworden, ihre Gesichter für´s Leben entstellt, symbolträchtige Zerstörung von Glück und Schönheit.
„Die ganze Bevölkerung, die vor 1975 geboren wurde, ist mehr oder weniger traumatisiert", sagt Kann Kall; er leitet einen kleinen psycho-sozialen Dienst, den die Niederlande finanzieren. „Die Leute klagen über körperliche Beschwerden, über Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit, sie sind sich der Verbindung zur Vergangenheit nicht bewusst." Kall verlor seine Eltern mit 13, er ging selbst durch all das durch, was sein Häuflein von 25 Mitarbeitern nun auf den Dörfern diagnostiziert. Der Verlust jeglichen Vertrauens in die Gemeinschaft, tiefsitzende Furcht, krankhaftes Misstrauen, Antriebsschwäche und eine Unfähigkeit, für die Zukunft zu planen. Individuelle Symptome; aber sie summieren sich zum Bild eines kraftlosen Landes, dessen Staatshaushalt fast zur Hälfte immer noch von internationalen Spendern aufgebracht wird.
Noch vor fünf Jahren gab es keinen einzigen in Kambodscha ausgebildeten Psychologen; jetzt haben gerade 100 Absolventen die Uni verlassen. Die meisten psychischen Störungen, die aus der Pol-Pol-Zeit und auch aus den nachfolgenden anderthalb Jahrzehnten Bürgerkrieg resultieren, werden nie eine Behandlung erfahren; sie werfen den Irrsinn in die täglichen Kriminalmeldungen, sie schlüpfen in die Gestalt des prügelnden Ehemannes. In gleichem Maße wie die politisch motivierte Gewalt in Kambodscha nachgelassen hat, ist die Kurve häuslicher Gewalt gestiegen.
Die meisten Gewalttätigkeiten werden einer Studie zufolge jetzt von 20- bis 24jährigen begangen, den Erben der unbewältigten Verwüstung.
„Die Folgen des Völkermords sitzen wie eine chronische Krankheit in unserem Volk, und diese Krankheit wird die nächsten zwei Generationen zerstören, wenn die Leute nicht endlich lernen zu reden", sagt Kann Kall. Könnte ein Tribunal gegen die Khmer Rouge das große Reden erzwingen? „Ja, aber das ist kein Spiel. Auf der internationalen Bühne mag es ein politisches Spiel sein. Aber für Kambodscha wird dieser Prozess entweder eine riesige psychologische Erleichterung bedeuten oder eine neue Traumatisierung."
Kein Hinweisschild draußen, ein massives Tor: das Dokumentationszentrum für den Völkermord. Aufgebaut mit Hilfe der amerikanischen Yale-Universität, jetzt ein unabhängiges Forschungsinstitut. Youk Chhang, der Direktor, sitzt vor seinem Laptop; er hat in den USA studiert, ein überaus selbstbewußter Mann. Als Kind musste er die Ermordung seiner Schwester mitansehen. „Das ist immer bei mir", sagt er, „aber ich fühle mich heute frei", sein Blick schweift über die Aktenregale, „das jahrelange Studium hat mir geholfen. Ich bewege mich nach vorn, ich weine nicht, ich bin nicht einmal mehr wütend."
400 000 Seiten Dokumente hat das Zentrum bisher gesammelt, darunter Lebensläufe von 8000 Khmer-Rouge-Kadern, Tagebücher, Folterprotokolle, diplomatische Korrespondenz. Der verbreiteten Annahme, am kambodschanischen Genozid sei nicht viel zu erforschen, widerspricht Youk Chhang vehement. „Es gibt keine einfache Wahrheit über die Khmer Rouge," sagt er. „Das hier", der Blick geht wieder über die Regale, „handelt nicht von Kambodscha. Es handelt vom Menschen. Es kann überall passieren."
Gerade hat das Zentrum die ersten Ausgaben des Magazins „Die Wahrheit suchen!" herausgebracht, endlich eine Publikation in Khmer. Ein Projekt „Familienspuren" hilft, Hinweise auf tote Angehörige zu finden. Und auf dem Papier existiert schon ein modernes neues Museum, eine Kombination von Forschungs- und Gedenkstätte, im Stil der großen Holocaust-Museen. „Wenn das Tribunal eingerichtet ist, werden wir auch Geld bekommen", sagt Youk Chhang. „Niemand kann dann in Würde Nein sagen."
Für die demokratischen Aktivisten in Phnom Penh, meist Rückkehrer aus dem Exil, hat die Suche nach der Wahrheit noch eine andere Seite: die Verantwortung des Westens. Nach dem Sturz Pol Pots bekamen die weiterkämpfenden Khmer Rouge noch lange Unterstützung - die Vietnamesen waren von der falschen Seite des Kalten Kriegs gekommen, als sie den Massenmord beendeten. „Heuchelei", ruft der Politologe Kao Kim Hourn, wenn man ihn auf ein Tribunal anspricht. „Wer interessiert sich denn für Kambodscha? Alles Unsinn. Es hat auch niemanden interessiert, als hier zwei Millionen abgeschlachtet wurden." Aber natürlich, fügt er leiser hinzu, müsse ein Prozess stattfinden.
Lao Mong Hay, Direktor eines Demokratie-Instituts, schreibt seit 15 Jahren Leserbriefe an die Presse in aller Welt, solange fordert er schon ein internationales Tribunal. Wenn ihn fragt, warum er soviel schreibe, sagt er abrupt: „Ich fühle mich schuldig." Er studierte in London, als die Khmer Rouge an die Macht kamen. „Ich saß an einem sicheren Ort, während meine Brüder starben." Seine Protestbriefe unterzeichnet er nur stellvertretend, mit dem Zusatz: „Im Namen meiner zwei Brüder".
Die Ärztin Kek Galabru empfängt mit heiterem Zynismus: „Ich ging 1971 nach Paris. Darum sehen Sie mich hier; sonst wäre ich bei den anderen im Massengrab." Eine Dame von Welt mit glitzernder Aura, 57 Jahre, in den Fältchen sitzt noch die Schönheit früher Jahre. Sie parliert französisch und englisch in rasantem Wechsel. Vor allem aber ist sie eine beinharte Kämpferin. Ihre Liga für Menschenrechte, unter dem Kürzel Licadho bekannt, ist die hartnäckigste Anklägerin der „Kultur der Straflosigkeit": Wer Macht hat oder reich ist oder staatliche Protektion genießt, kommt mit Verbrechen ungeschoren davon. An der Spitze der Außergesetzlichen stehen beispielgebend die Khmer-Rouge-Führer: Wenn sogar Massenmord straffrei bleibt, kämpft die Moral auf verlorenem Posten. Dann kann auch ein Polizist eine Karaoke-Sängerin erschießen weil sie seine sexuellen Avancen ablehnte.
Licadho hat einen Bericht über Folter veröffentlicht, er gibt Einblick in einen „Teufelskreis von Gewalt und Trauma". Die kambodschanische Polizei foltere routinemäßig, um Geständnisse oder Geld von Verhafteten zu erpressen. Folter nicht aus politischen Gründen, sondern „um Dinge erledigt zu kriegen".
Das Mobiltelefon der Ärztin klingelt: Es sind wieder Landvertriebene in Phnom Penh angekommen! Auch dies gehört zur Kultur der Straflosigkeit: Bauern wird einfach ihr Land weggenommen, niemand wird dafür belangt. Wir fahren zu einer zertretenen Wiese am Ufer des Mekong. Hier sammeln sich die Ärmsten der Armen, flankiert von einem Luxushotel auf der einen Seite und einem Kasino-Schiff auf der anderen. Der Reisbauer Sar Sopheap ist halbnackt angereist, um sich bei der Regierung zu beschweren; bis sie ihn anhört, will er auf der Wiese campieren, mit nichts als einer Plane über dem Kopf. Soldaten haben ihn und 125 weitere Familien von ihren Stückchen Land vertrieben, um es an eine koreanische Firma zu verkaufen. Er bekam dafür eine Entschädigung, die in der Stadt für zwei Mahlzeiten reicht.
Die Roten Khmer verbrannten außer Büchern auch viel anderes Papier; deshalb kann fast kein Kambodschaner heute beweisen, dass sein Land ihm gehört. Aber nun beginnen die Opfer sich zu wehren; Worte wie Recht und Beschwerde sind in ihre Köpfe geraten, selbst wenn sie diese Worte nicht schreiben können. Und deshalb sagen langjährige Beobachter der kambodschanischen Tragödie, vieles sei nun besser geworden. Zarte Keime einer Civil Society mühen sich aus dem verdörrtem Boden. Gewerkschaften sind entstanden, es wird gestreikt und demonstriert.
In kaum einem anderen Land der Welt hat sich soviel ausländischer guter Wille ausgetobt - mit so zwiegesichtigen Folgen. 1992 kamen die Vereinten Nationen mit 16000 Blauhelmen und 8000 Zivilisten; der milliardenschwere UNTAC-Einsatz bewirkte wenig außer sozialen Verwerfungen. Kinder konnten mit Wagenwaschen plötzlich mehr verdienen als ihre Eltern auf dem Reisfeld. Im Gefolge der UN explodierte die Zahl der Nichtregierungsorganisationen; 300 solcher NGOs sind heute im kleinen Kambodscha registriert, die Hälfte davon internationale. Ihre Arbeit bewirkte zweifellos viel Gutes, säte vor allem den Menschenrechtsgedanken. Aber im Sog der Dollar-Gehälter bieten sich heute Ärzte, derer das Land so bitter bedarf, lieber NGOs als Übersetzer an, und Lehrer stehen Wache vor den Toren von Hilfsorganisationen.
Das ländliche Kambodscha zeigt seine Armut in graziöser Gestalt. Weltabgewandte Melancholie liegt über den Dörfern, ein Leben wie ehedem, ohne Plastik, oft ohne Strom. Der Fluch des Landes ist seine geistige Armut. Nach dem Sturz der Khmer Rouge hatte Kambodscha noch 300 Akademiker. Wer nur die Grundschule absolviert hatte, wurde gleich Lehrer.
Besuch in einer Dorfschule: Der Lehrer ist gerade nicht da, das kommt öfters vor, denn das Gehalt eines Lehrers reicht nicht zum Leben, er muss nebenher sein Feld bestellen. Im Klassenraum des zweiten Schuljahrs drängt sich eine riesige Menge erwartungsvoller Gesichtchen - 144 Kinder, sie sitzen so eng, dass manche links und rechts fast von den alten Holzbänkchen hinunterfallen. Die sechste Klasse nebenan zählt nur noch 32 Schüler, und selbst von denen ist gerade die Hälfte auf dem Feld.
Der Schwund hält den Kreislauf von Armut und Unbildung in Gang. Landesweit beendet nicht einmal jedes zehnte Kind die Grundschule. In der Stadt blüht Korruption sogar im Klassenzimmer; die Schüler müssen dem unterbezahlten Lehrer Waren abkaufen, wenn sie versetzt werden wollen. Viele Eltern akzeptieren Bildung für ihre Kinder nur als vermeintlich kurzen Weg zu Reichtum.
Das Bewegendste, was man bei der Inspektion dieser Gesellschaft erlebt kann, ist vielleicht die Scham, die gebildete Kambodschaner befällt angesichts des kulturellen Niedergangs ihres Volkes. Neth Barom, der Vize-Rektor der Königlichen Universität von Phnom Penh, sagt sehr leise: „Kambodscha ist das Abfall-Land Asiens geworden. Alles mit abgelaufenem Verfallsdatum wird hierhin exportiert. Unser Land stellt nichts Bemerkenswertes her. Selbst die Fernsehreparateure auf dem Markt sind Vietnamesen, weil unsere Leute es nicht können."
Frühmorgens an der Fakultät der Schönen Künste: Zehnjährige kleine Grazien beugen ihre Finger zur geheimnisvollen Zeichensprache, üben die Schrittfolgen klassischen kambodschanischen Tanzes. Um die Hüften tragen sie ein zur Pluderhose gewickeltes Tuch, einen funkelnden Gürtel; mit kindlichem Singsang geben sich die Mädchen selbst den Rhythmus. Neun Jahre Training sind nötig, um die disziplinierte Geschmeidigkeit eines professionellen Tänzers am Königlichen Ballett zu erreichen. Im Dämmerlicht der Übungshalle leuchten Kerzen auf, Opfergaben stehen bereit, eine Zeremonie beginnt für die Verstorbenen. Kaum ein Tänzer überlebte die Pol-Pol-Zeit. Die kleinen Grazien sind zu sehr auf ihre Schrittfolge konzentriert, um die Bürde zu spüren: Sie verkörpern die Wiederauferstehung traditioneller Kultur aus den Schädelstätten der Killing Fields. -
Der Zustand der Piste nach Pailin, wo die verbliebenen Khmer Rouge in einer autonomen Zone leben, wirkt wie ein Symbol für die Unerreichbarkeit der Schuldigen. Der Wagen schlägt von Loch zu Loch, braucht fünf schmerzhafte Stunden für die letzten 90 Kilometer, dann kommt das Hochland an der Grenze zu Thailand in Sicht; Panzer rosten am Wegesrand. Das Herz der Finsternis begrüßt mit Massagesalons und Thai-Pop aus allen Kanälen. Welch ein seltsames lärmendes Kaff! Die Gegenwart scheint verruchter als die Vergangenheit.
1996 lief Ieng Sary, einst der Außenminister Pol Pots, mit 12 000 Anhängern zur Regierungsseite über; für die Niederlegung der Waffen bekamen sie Straffreiheit. Seitdem blüht in Pailin der legale wie illegale Handel mit Tropenholz und heimischen Edelsteinen. Das Refugium der Khmer Rouge ist ein höhnisches Nachwort zu ihrem einstigen Egalitarismus: einige Anführer reich, mit unzugänglichen Villen, drumherum das ärmliche Dorfleben des Fußvolks. Der gewöhnliche Khmer-Rouge-Soldat steht nun im Sold der Regierungsarmee oder er bekam vom Staat ein Stückchen Land geschenkt, zur Versöhnung.
Es bedarf vorsichtiger Annäherung über vier Stufen von Mittelsmännern, dann sitzen wir der 45jährigen Frau Sakha gegenüber, einer ehemaligen Roten Khmer: „Pol Pot war ein gutaussehender Mann", sagt sie, „und er war freundlich, er lächelte immer, jeder mochte ihn sofort." Sie trauerte, als Pol Pot 1998 starb. „Was heute über die Vergangenheit gesagt wird, stimmt nicht. Es gab genug zu essen, das Leben war leichter als heute." Sie schaukelt ihr jüngstes Kind in der Hängematte, wischt sich die Augen. Ihr Mann hat einen Splitter im Kopf, er ist immer nervös. Frau Sakha weint, vielleicht über sich selbst.
Herr Hoeun, der freundliche Dorfchef, war eine Art Gruppenführer bei den Khmer Rouge; auch er besteht darauf, dass es genug zu essen gab. Unsere plauschende Runde erweitert sich, ein Alter, fast taub, gesellt sich dazu, er war ein Offizier der Gegenseite, ein Weggenosse des prowestlichen Generals Lon Nol, der sich 1970 mit CIA-Hilfe an die Macht putschte. Als sein Regime kollabierte und die Khmer Rouge siegten, versteckte sich der Offizier, vier Jahre lang. Was macht der Alte jetzt hier bei seinen einstigen Todfeinden? „Ich denke gar nichts über Politik", schreit der Schwerhörige, „wir sind jetzt alles normale Leute."
Herr Savuth wohnt in einem besseren Haus; er war Kommandeur der Khmer Rouge, heute kommandiert er in der königlichen Armee. War die Pol-Pol-Zeit gut oder schlecht, Herr Savuth? „Tja", sagt er, „schwer zu beurteilen. Die Prinzipien waren gut, aber dann wurde zuviel untereinander gekämpft." Seinen halbwüchsigen Kindern hat er kaum etwas erzählt; sie stehen plötzlich hinter uns, angespannt lauschend. Die Füße von Herrn Savuth baumeln nervös. „Ein Prozess ist jedenfalls überflüssig", sagt er, „denn die Khmer Rouge gibt es nicht mehr." Als wir uns schon verabschiedet haben, sagt Herr Savuth noch: „Ich wollte nie, dass Blut fließt."
Ein paar Häuser weiter wohnt ein Armeeoffizier, der nach 1979 an der Seite der Vietnamesen die Khmer Rouge gejagt hat. Unter den Gejagten war sein eigener Bruder; Der wohnt gegenüber, nun sind sie wieder Freund. „Die Pol-Pot-Zeit war die Hölle", sagt der Offizier; er heiratete eine Kämpferin der Khmer Rouge. Seltsame Verbindungen. Alle Sorten Vergangenheit leben in dieser Zone, in Schweigen vereint.
Den Gouverneur von Pailin treffen wir beim Sonntagsausflug an, er ist umringt von Leibwächtern. Dicke Goldketten um den Hals, ein funkelnder Klunker am Finger, Bermuda-Shorts. Herr Chhean war ein Vertrauter Pol Pots. Er gehe gerade wandern, sagt er. Kurz darauf ist sein Trupp im Kasino „Caesar" verschwunden, mit Blick auf den thailändischen Grenzbaum. Unser Fahrer weigert sich, vor dem Kasino zu parken. Bitte die Herren nicht stören! Angst.
Viele Stufen führen hoch zur alten Pagode von Pailin. Oben stellt eine Figurengruppe die grausamen Strafen in der buddhistischen Hölle dar, Zungen werden herausgerissen, Köpfe in Wassertröge gesenkt; die Methoden wirken vertraut, vertraut aus dem Foltergefängnis Tuol Sleng. Mild senkt sich Abendlicht, unten im Tal singen die Mönche.