Die zwei Gesichter der Sharia

Das Islamische Strafrecht und der Schrei nach Gerechtigkeit

 

Das Wichtigste ist nicht zu sehen. Der Koran ist verborgen in einer Tasche aus buntem Ziegenleder; sie hängt an der Wand des Gerichtssaals, an einem schlichten Nagel. Wer auf den Richter blickt, blickt immer auch auf die Tasche.

Im Saal herrscht respektvolle Stille. Die Zuhörer sitzen nach Geschlechtern getrennt auf Holzbänken, Männer links, Frauen rechts, zwischen ihnen ein Sichtschutz; nur der Richter sieht von seinem erhöhten Podest aus alle. Die Platten an der Saaldecke haben Löcher, drei rostige Ventilatoren verharren reglos, die Akten auf dem Tisch des Richters sind von Hand geschrieben.

Dies ist ein islamisches Gericht, ein Oberes Sharia-Gericht.

Die Fälle, die an diesem Morgen verhandelt werden, erzählen von afrikanischem Alltag. Streit um ein Stück Land, Streit um Wasser in einem Dorf. Dann ein Familienzwist: Eine junge Frau wurde zwangsverheiratet wegen einer Erbschaftssache, sie wehrt sich, steht in blankäugiger Schüchternheit auf der Frauenseite des Gerichtssaals, auf der Männerseite ihr Vater, ein magerer, ärmlich gekleideter Übeltäter. All diesen Fällen ist gemeinsam, dass Kläger und Beklagte der bunten Tasche aus Ziegenleder mehr vertrauen als einem staatlichen Gericht.

Manchmal wird die Tasche vom Nagel genommen. Vor zwei Monaten war es zuletzt, ein Mann war des Mordes angeklagt, die Beweise waren schwach, der Angeklagte schwor auf den Koran, dass er unschuldig sei. Er schwor mehrmals, und wer Gott so selbstbewußt als Zeugen seiner Unschuld herbeiruft, der wird von einem Sharia-Gericht freigesprochen.

Dies ist der Norden Nigerias. Die Region ist zum Synonym für Fanatismus und archaische Rückständigkeit geworden, seit hier vor sechs Jahren die islamischen Strafgesetze der Sharia eingeführt wurden. Sie drohen im Extremfall mit Steinigung und Amputation. Sharia -  allein das Wort erzeugt im Westen instinktive Abwehr. Für viele Muslime in Nigeria ist es hingegen ein Wort der Hoffnung: Sie verbinden damit Gerechtigkeit und eine saubere Justiz.

So führt diese Reise mitten hinein in den Streit um Werte, um Religion, um Identität. Eine globale Front;  Nigeria ist davon ein besonders unübersichtlicher Abschnitt, und manchmal ein blutiger. Nach Kämpfen zwischen Muslimen und Christen lagen in den vergangenen Wochen mehr als hundert Tote in Nigerias Straßen. Die Wut über die Karikierung des Propheten war wie ein Brandbeschleuniger in lokale Konflikte gefahren.

In Nigeria, der größten schwarzen Nation der Welt, ist gut die Hälfte der Bevölkerung muslimisch, etwa 70 Millionen. Afrikas Islam wird leicht übersehen, dabei ist jeder zweite Afrikaner Muslim, circa 380 Millionen Menschen - mehr als im Nahen Osten.

Quer durch Nigeria verläuft eine Linie; sie ist nicht mit dem Lineal gezogen, sie hat Zacken und Fransen, doch teilt sie das Land grob in zwei Hälften, in den überwiegend muslimischen Norden und den überwiegend christlichen Süden. Eine historische Grenze, an der sich zwei importierte Religionen trafen. Der Islam kam 700 Jahre früher nach Westafrika, er reiste ab dem 11. Jahrhundert von Norden her mit den arabischen Händlern über die Karawanenstraßen in die Sahelzone. Die christlichen Missionare drangen später von Süden her durch den tropischen Küstengürtel vor, mit den britischen Kolonialherren.

Heute werden Nord und Süd durch einen Superlativ zugleich vereint und getrennt: Im Norden können angeblich mehr Menschen den Koran auswendig als in jedem anderen Land der Welt - und im Süden soll es mehr Priesteramtskandidaten geben als irgendwo sonst.

 In Lagos, dem urbanen Moloch im Süden, dampft emphatische Christlichkeit in die abgasblaue Luft. Kaum ein Friseursalon, der nicht Gott im Namen trüge; der Software-Laden verkauft „Godsoft" statt Microsoft, und wer einen Eimer und einen Scheibenwischer besitzt, nennt sein Unternehmen „divine car wash".

Ob Christ, ob Muslim, wer in der Politik etwas werden will, muß Gott auf den Lippen führen. Religion und Politik umschlingen einander in diesem Land, das so gläubig ist und so korrupt. Und weil die Politiker oft alle Hoffnungen betrügen, flüchten sich die Betrogenen um so leidenschaftlicher zu Gott. -

In Nordnigeria ist Trockenzeit. Die Luft ist grau und braun vom Harmattan, einem sandigen Wind aus der Sahara. Beigefarben der Himmel, braun die Äcker, blätterlos die Baumriesen. Ab und an die Lehmmauern eines Dorfes, wie eine flache Festung am Boden klebend, braun an braun. Ziegen, Schafe, Rinder kreuzen hirtenlos die Straße, manchmal ein paar Kamele.

Eine Schule am Straßenrand, eine Grundschule. Kaum ein Kind hat ein Schulbuch, und der Lehrer antwortet auf die Frage, was sein größter Wunsch sei: Mehr Kreide! Als der Unterricht beginnt, schickt er den ältesten Jungen der Klasse, den Stummel Kreide von gestern aus sicherem Gewahrsam zu holen. Ein Stummel Kreide ist zu wertvoll, ihn unbeaufsichtigt herum liegen zu lassen. Obszöne Armut in einem Land, dessen Oberklasse manchmal mit Koffern voller Schmiergeld im Ausland erwischt wird.

Aus dem kargen Gleichmut dieser Landschaft, aus einem der lehmbraunen Dörfer wurde vor vier Jahren eine Frau hinaus geschleudert in die Schlagzeilen der Welt. Amina Lawal - die Frau, die gesteinigt werden sollte. Eine Schwangere, zum Tode verurteilt wegen außerehelichem Geschlechtsverkehr. Ihr Bild ging durch die Medien des Westens, eine Verschleierte mit großen traurigen Augen: Das Gesicht der Sharia.

Die Leute im Dorf zeigen den Weg zu ihrem Haus. Amina Lawal ist hübscher als auf dem alten Bild. Sie ist jetzt 34, stillt ein Baby. Es entstammt einer neuen Ehe, ihrer zweiten, aber die ging schon wieder zu Bruch. Dies ist das Haus der Eltern. An der Wand des winzigen Zimmers hängt im großen Rahmen das Gesicht mit den traurigen Augen; es scheint zu groß für den kleinen Raum, wie das Foto eines fernen Stars. Amina nennt sich selbst „den Fall", sie will Distanz zur Vergangenheit, am liebsten gar nicht darüber reden. Einmal sagt sie, wie zu sich selbst: „Ich habe vergessen, welche Antworten man in Interviews gibt."

18 Monate lebte sie mit dem Todesurteil; dann wurde es  in dritter Instanz endlich aufgehoben. Nigerianische Anwältinnen, Frauenrechtlerinnen und Menschenrechtsgruppen hatten Amina zur Seite gestanden - muslimische wie christliche.

Eine Entschädigung bekam sie nicht; sie blieb einfach zurück, nachdem die große Welle über sie hinweg gegangen war. Eine Frau mit fünf Kindern, das erste bekam sie mit 14. Leise sagt Amina, sie hätte gern ein kleines Startkapital, möchte einen Laden aufmachen, auf eigenen Füßen stehen.

Über Nigerias berühmtestes Justizopfer, über ihr Dorf, über die Region hat sich der Alltag gesenkt. Sechs Jahre sind vergangen, seit im Januar 2000 der erste Bundesstaat in Nordnigeria die islamischen Strafgesetze einführte; elf weitere Staaten folgten rasch. Niemand ist gesteinigt worden seitdem. Von den sogenannten  Körperstrafen wird allein die Prügelstrafe öfter vollstreckt, soweit bekannt nur an Männern, vor allem wegen Alkoholgenuß. Die Hiebe sollen mehr demütigen als schmerzen. Wenn man versucht, mit einem derart Gezüchtigten zu sprechen, schließt sich um ihn ein abwehrender Ring muslimischer Brüderlichkeit. Die Strafe sei Schande genug gewesen, den Täter durch Fragen zusätzlich beschämen, das wäre nicht rechtens.

Versuch, eine Region zu verstehen.

Islam ist in Nordnigeria wie Hirse, ein Grundnahrungsmittel. Kinder wachsen früh in religiöse Disziplin hinein, schon kleine Mädchen tragen Schleier, kleine Jungs rollen beim Freitagsgebet winzige Gebetsteppiche aus, manchmal knien sie falsch herum, so gibt es mehr zu sehen. Alte Männer kauen auf Stöckchen, weil der Prophet das getan hat; es soll gut sein für die Zähne. In Haussa, der Hauptsprache des Nordens, gibt es kein weltliches Wort für „bitte"; man sagt statt dessen: „Vergelte es Allah!".

Seit annähernd tausend Jahren hat kein Eindringling hier je die Dominanz des Islam in Frage gestellt, auch die britischen Kolonialherren nicht. Sie fanden in Nordnigeria ein altes islamische Reich vor, das Sokoto-Kalifat; sie machten daraus ein Protektorat und hielten sich - nach dem Prinzip: teile und herrsche! - aus fast allem heraus. Ihres taktischen Bündnisses mit den feudalen Emiren wegen verboten die Briten christlichen Missionaren sogar den Zutritt zum Norden. Englisch und westliche Bildung breiteten sich nur im Süden aus - eine kulturelle Spaltung, die Nigeria bis heute prägt.

Die Briten ließen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts auch die islamischen Strafgesetze in Kraft, verboten nur Steinigung und Verstümmelung. Allerdings stellten sie die Sharia auf eine Ebene mit afrikanischem Gewohnheitsrecht und animistischen Praktiken - Nordnigerias Muslime würden diese Beleidigung des für sie göttlichen Rechts nie vergessen.

Sharia, das heißt wörtlich „Weg zur Wasserstelle". In einer Wüstenkultur bedeutet die Wasserstelle Überleben - das Überleben einer Gemeinschaft, und sie verlangt Disziplin. Die Vorstellung mag helfen, ein hochkomplexes Rechtsgebilde zu verstehen, von dem die berüchtigten Strafen nur ein winziger Teil sind. Sharia, das sind sämtliche Vorschriften und Empfehlungen für das private wie öffentliche Leben, von der Hygiene bis zum Handelsrecht. Ihre Quellen: Zuerst der Koran, der in 500 Versen Verbindliches enthält; dann die in Tausenden von Anekdoten und Aussprüchen überlieferte Lebenspraxis des Propheten; ferner der Analogieschluß aus diesen primären Quellen und schließlich der Konsens berühmter Gelehrter, wenn sie Streitfragen zu entscheiden hatten.

Am Ende ist man wieder an der Wasserstelle: Im islamischen Recht rangiert die Gemeinschaft vor dem Individuum, die Wohlfahrt vor der Freiheit. Für Leute, die einen Stummel Kreide hüten müssen, ist das eine attraktive Idee.

Und so rollte dann durch zwölf Bundesstaaten des Nordens eine religiös-soziale Bewegung, die einheimische Intellektuelle im Rückblick „die Sharia-Revolution" nennen. Im ersten Bundesstaat kam die Idee noch von oben, von einem ehrgeizigen Gouverneur; danach war der Geist aus der Flasche, ergriff die Armen wie ein Heilsversprechen. Sharia würde sie befreien von den schlimmsten nigerianischen Plagen, von Korruption und Amtsmißbrauch. Die Richter würden fortan unbestechlich sein, die großen Diebe würden ihre Geldkoffer fallen lassen,  und niemand würde Not leiden, denn die Reichen würden für die Armen sorgen - steht es so nicht im Koran?

Das war die Hoffnung. Die Hoffnung war das andere Gesicht der Sharia; eines, das wir besser verstehen können.

Aber die Hoffnung wurde verraten. Die neuen Gesetze trafen vor allem die kleinen Leute. Das bescheidene Anwesen der Eltern von Amina Lawal ist dafür ein symbolischer Ort: Eine Koranschule, Aminas Vater unterrichtet hier ein gutes Dutzend Kinder, lebt von Spenden. Amina ging, seitdem sie laufen konnte, in die Schule des Vaters. Die Tochter eines Koranlehrers das bekannteste Opfer der Sharia - eine bittere Ironie. Die ersten beiden Täter, denen wegen Diebstahls eine Hand amputiert wurde, waren ein Kuhdieb und ein Fahrraddieb.

Schlampig verfaßte Gesetze, unkundige Richter, machthungrige Politiker, fanatische Religionsgelehrte - das war die böse Rezeptur für eine Serie von drakonischen und fehlerhaften Urteilen in den ersten zwei Sharia-Jahren. Meistens wurden sie später aufgehoben  - oder die Strafen nicht vollstreckt. Dutzende Nigerianer, wegen Diebstahls zu Verstümmelung verurteilt, harren seit Jahren im Gefängnis ihres Schicksals; manche werden nun begnadigt.

Im Verlauf von Jahrhunderten islamischer Geschichte sind Steinigung und Amputation relativ wenig angewandt worden. Beide Strafen dienen vor allem der Abschreckung; deshalb sind die Anforderungen an Beweise und Zeugen fast unerreichbar hoch angesetzt. Die Balance aus Schärfe und Milde zu wahren, die Kunst der Verfahrensregeln zu beherrschen, dafür fehlte es Nigerias Kadis an Rechtskenntnissen - und an religiöser Herzensbildung.

Vielleicht ein typisches Phänomen: Der nostalgische Rückblick auf die goldenen Zeiten des Islam verführt dazu,  Instrumente aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Doch die Finesse, sie zu benutzen, ist den heutigen Muslimen verloren gegangen.

„Viele unserer Gelehrten haben ein fossiles Verhältnis zum Leben", sagt die Journalistin Bilkisu Yusuf. „Sie verstehen es nicht, die Lehren aus der Zeit des Propheten so anzuwenden, dass eine progressive islamische Gesellschaft entsteht. Sie ignorieren die brennenden Bedürfnisse der Menschen." Die 53jährige Bilkisu stammt selbst aus einer Familie von Islamlehrern; bis vor kurzem leitete sie Nigerias Muslimischen Frauenverband. Die eloquente und elegante Aktivistin verkörpert eine andere Seite von Islam in Nordnigeria: weltoffen und sozialreformerisch, dabei keineswegs säkular.

 „Sharia bedeutet, dass die Leute den Gouverneur fragen können: `He, von welchem Geld hast Du Dir Dein teures Hemd gekauft?`" Bilkisu unterstützt Transparency International; eine Sharia-geleitete öffentliche Moral zielt für sie in eine ähnliche Richtung. „Die Sharia stellt die Immunität und die Privilegien der Mächtigen in Frage, verlangt Rechenschaft von den Führern."

Progressive, meist akademisch gebildete Muslime des Nordens arbeiten nun an etwas, das sie „die wirkliche Sharia" nennen, im Unterschied zur „politischen Sharia" der vergangenen Jahre. Dem Schock über Steinigungsurteile und blutige Krawalle folgten Konferenzen und Studien; die Krise brachte Feministinnen und traditionelle Imame erstmals an einen Tisch, unterstützt durch westliche Förderer, von deutscher Seite die Heinrich-Böll-Stiftung.

Das religiös artikulierte Gerechtigkeitsverlangen der Massen von Fanatismus zu befreien und für politischen Fortschritt zu nutzen, das ist ein gewaltiges Unterfangen. Aber für die muslimischen Reformer gibt es dazu keine Alternative. „Kein Politiker in Nordnigeria wird es wagen, die Sharia wieder abzuschaffen", sagt der Historiker Hamid Boboyi; er leitet das Arewa House, ein angesehenes Forschungsinstitut. „Es gibt keinen Weg zurück. Und anstatt uns gegen den Trend der Massen zu stellen, sollten wir den Trend für eine progressive Entwicklung nutzen."

Die Reform beginnt mit einer besseren Ausbildung der Richter. Islamisches Recht ist durchaus flexibel, gerade weil es sich aus so vielen Quellen speist und sich dazu noch in vier Rechtsschulen teilt. Und eine sanfte Modernisierung ist möglich bei der Kodifizierung, das heißt wenn die Sharia in Gesetzesform gegossen wird. Denn dabei kann ganz eklektizistisch diese oder jene liberalere Lehrmeinung bevorzugt werden. Viele islamische Länder haben auf diesem Weg das Sharia-Familienrecht reformiert: Frauen bekamen das Recht auf Scheidung, Polygamie wurde eingeschränkt oder bis zur praktischen Unmöglichkeit erschwert.

Strafen gänzlich abzuschaffen, die im Koran oder in gesicherten Propheten-Auskünften explizit genannt werden, ist gläubigen Muslimen unmöglich - auch wenn sich ihre persönlichen Wertvorstellungen mit internationalen Menschenrechtsabkommen decken. Steinigung und Amputation könnten aber durch ein Moratorium ausgesetzt werden.

Außerhalb Nigerias gelten die Sharia-Strafgesetze im Iran, im Sudan, in Saudi-Arabien, Libyen und Pakistan - und jeweils gelten sie anders. In Ghadafis Libyen haben die Strafen eher Alibi-Charakter, werden kaum angewandt. In Pakistan gab die Sharia den männlichen Obsessionen von Ehre eine Waffe: Viele Frauen sitzen in Haft wegen willkürlicher Vorwürfe von Ehebruch.

„Nicht die Sharia, sondern die patriarchalische Tradition ist der Feind der Frauen", sagt die Anwältin Fatima Idris. Im Steinigungsprozess von Amina Lawal saß sie damals im Gerichtssaal, um Solidarität zu zeigen. In ihrer Kanzlei ist es an diesem Mittag wegen Stromausfall brütend heiß, vor dem offenen Fenster dröhnt eine Baumaschine, aber das mindert nicht die Verve, mit der die Anwältin von ihren Fällen erzählt. Sie vertritt Mandantinnen vor Sharia-Gerichten, oft wegen häuslicher Gewalt. „Viele Frauen sind zu fatalistisch! Sie geben mitten im Prozeß auf, wenn ihre Familie sagen: Überlass` es Gott!"

Fatima ist stolz, dass die erste Richterin in Nigerias nationalem Supreme Court eine Muslimin ist; auch im Norden gibt es hochrangige muslimische Richterinnen - jedoch nur an weltlichen Gerichten. Im Sharia-Gericht darf keine Frau urteilen, so sagt es zumindest die in Westafrika vorherrschende malikitische Rechtsschule. Fatima begehrt dagegen nicht auf. „Dekrete von Allah können wir nicht ändern. Niemals! Selbst wenn alle Muslime der Welt es wünschten."

Traditionelle afrikanische Gebräuche können sehr frauenverachtend sein. Im christlichen Südosten muß manche Witwe das Wasser trinken, mit dem die Leiche des Ehemannes gewaschen wurde: um zu beweisen, dass sie an seinem Tod nicht schuld ist. Im islamischen Norden widersprechen viele familiäre Praktiken direkt der Sharia: Mädchen am Schulbesuch hindern oder sie gegen ihren Willen verheiraten; Frauen das ererbte Land verwehren oder den Besuch beim Arzt. Solche Beispiele nennt das British Council in einer Broschüre, die das Kulturinstitut mit dem nigerianischen Centre for Islamic Legal Studies verfaßt hat. „Frauenrechte fördern durch Sharia", unter diesem provokanten Titel hat eine Aufklärungskampagne begonnen, unterstützt von britischer Entwicklungshilfe. Eine westliche Regierung besetzt Sharia positiv - das ist neu. -

Ein Vogelschwarm zieht über die neckischen weißen Zinnen des Emir-Palastes von Kano. Dies ist eine der ältesten Stadt Westafrikas, mehr als tausend Jahre alt. Abstrakte Ornamente bedecken die schlichten Lehmmauern des Palastes; im Innern verwirrt ein raffiniertes System von Höfen und Durchgängen - so kann kein Fremder unbemerkt zum Frauenquartier vordringen. Ein Palast der Polygamie: Der 75jährige Emir hat mit vier Frauen und diversen Konkubinen 70 Kinder.

Nordnigerias Emire haben sich mit dem säkularen Bundesstaat genauso arrangiert wie früher mit den britischen Kolonialherren. Sie seien „Prostituierte der Macht", schimpfen radikale muslimische Intellektuelle. Aber viele im Volk lieben sie.

Weibliche Verwandte des Emirs sitzen im Palasthof auf Mäuerchen herum, sie wirken nicht besonders königlich, doch die Vorbeigehenden verneigen sich und berühren mit einer raschen, eleganten, nur angedeuteten Bewegung den Boden. In solchen Momenten kann Nordnigeria den Besucher einhüllen in eine sehr spezielle Atmosphäre, sie mag geistig eng sein, aber hat doch Würde, und wenn es nur die Würde ist, sich dem westlichen Lebensstil und dem Diktat der Beschleunigung zu entziehen. Wer auf sich hält, kleidet sich in traditionelle stoffreiche Gewänder; wer Westliches trägt, wirkt ärmlich.

Doch das Gerüst von Althergebrachtem hält immer weniger zusammen. Jenseits der Palastmauern ist Kano eine unruhige, fiebernde Millionen-Metropole.  Nigerias zweitgrößte Stadt war oft Schauplatz von Gewalt. Heerscharen arbeitsloser junger Männer und mittelloser Studenten von Koranschulen stellen ein leicht erregbares Potential. Im Fagge-Viertel, wo viele von ihnen leben, muß man nicht lange suchen, um junge  Männer zu finden, die Usama bin Laden für einen „guten Führer" halten. Weil er „ sauber" sei, sagen sie, weil er nichts für sich selbst wolle.

Diese Stimmung hat in Kano, dem wichtigsten Staat des Nordens, bei der letzten Wahl einen Außenseiter zum Gouverneur gemacht. Ibrahim Shekarau, ein Lehrer, kam ohne Seilschaft, ohne Reichtum ins Amt - so etwas passiert selten in Nigeria.

Auch dies ist nun Sharia: Der Gouverneur identifizierte mehr als hundert „gesellschaftliche Übel", darunter die „Zügellosigkeit" der Jugend, entwarf Programme für moralische Erneuerung. Sie heißen „Bring dein Haus in Ordnung!" oder  „Richtet eure Reihen!". Letzteres spielt auf die Gebetsreihen in der Moschee an, sie seien Ausdruck der Gleichheit vor Gott,  aber auch von Ordnung und Disziplin.

Auf dem Vorplatz eines Gerichts stehen hunderte von Mopeds, daneben ebensoviele junge Männer mit mürrischen Mienen. Sie sind Taxifahrer, ihre Mopeds wurden konfisziert bei der jüngsten Moral-Kampagne: Die Männer hatten weibliche Fahrgäste hinten drauf mitgenommen, und das ist jetzt verboten. Ein Mann und eine Frau so eng zusammen, das ist quasi eine Vorstufe zum Ehebruch, davon soll Kano gereinigt werden. Die Maßnahme ist reichlich unpopulär, nicht nur bei den Fahrern, die empfindliche Geldstrafen zahlen müssen. Frauen warten oft Stunden, bis sie eines der neuen dreirädrigen Frauentaxis erwischen.

Wieder zielt die Sharia auf die kleinen Leute. Als gebe es keine größeren Unanständigkeiten.

 Bei den inoffiziellen Prostituierten im christlichen Viertel von Kano seien die meisten Kunden Muslime, sagt ein Insider, gleichfalls in den paar christlichen Tavernen, die Alkohol ausschenken dürfen. Auf einer professionell organisierten Achse reisen männliche und weibliche Prostituierte von Kano sogar ins saudi-arabische Jeddah, mit Pilger-Visum. „Unehrlichkeit führt zu nichts. Versuch`s mit Ehrlichkeit!" steht auf großen Tafeln in der Stadt.

Der wahre Feind des armen Muslim in Nordnigeria sei - der reiche Muslim. Das hat Lamido Sanusi geschrieben, ein streitlustiger Intellektueller, zugleich  leitender Manager einer großen Bank und Experte für islamisches Recht. Die Praxis der Sharia in Nordnigeria sei eine „Travestie", meinte er,  mache den Islam lächerlich. Dafür haben ihn manche als „Feind des Islam" beschimpft.

 Der aristokratische, feingliedrige Mann genießt es sichtlich, umstritten zu sein - und verbindet auch im eigenen Leben sehr eigenwillig Feudales und Modernes. Lamido Sanusi gehört zur Familie des Emirs von Kano, doch trifft man den 44jährigen eher in Lagos an, auch `mal in London; an allen drei Orten hat er eine Ehefrau, nennt sich kokett einen „feministischen Polygamisten". Früher war er Marxist, entdeckte dann, dass es „etwas Drittes" gebe neben Kapitalismus und Sozialismus: Islam.

Lamidos kluge Analysen werden von Experten geschätzt. Die Globalisierung, sagt er, zerre das Gewebe der Gesellschaft Nigerias diametral auseinander - der Süden beeinflußt vom westlichem Diskurs, der Norden vom arabisch-islamischen. Die Muslime Nordnigerias stünden kulturell „dem Rest der islamischen Welt näher als dem Rest des eigenen Landes."

Wird also in Nigeria gegenwärtig auf  kleiner Bühne das gleiche Stück gespielt wie im großen Welttheater?

Daily Trust, die einzige Tageszeitung mit dem Blickwinkel des Nordens, schreibt zur Karikaturen-Krise: „Sind wir schon in der Ära des Clash of civilisations? Es sieht ganz so aus. (...) Und es wird so weitergehen, bis zum großen Clash der Zukunft." In Kano verbrannten die Landesparlamentarier eine dänische Fahne, draußen vor dem Parlament.

Ein paar Tage vorher haben sich in einem schlichten Seminarraum Akademiker und demokratische Aktivisten des Nordens versammelt, Frauen und Männer, die meisten zeichnen mit Haji oder weiblich Hajiya vor dem Namen, der Titel von Mekka-Pilgerern. Die Versammelten wollen den Clash nicht, sie sind besorgt, wie Nord und Süd in Nigeria auseinanderdriften und suchen nach den Gründen.

 Traditionell war das Gefälle schon groß: Ein Haushalt in Lagos hat im Schnitt ein sechsfach höheres Einkommen; fast alle großen Industrieprojekte der Regierung sind im Süden; fünf der Sharia-Staaten im Norden gelten nach dem internationalen Index als „extrem arm". Aber nun kommt noch etwas anderes hinzu: Seit 1999 Nigerias demokratische Ära begann, hat sich im Norden ein religiös-kultureller Widerstand entwickelt gegen vermeintlich „westliche" Entwicklungsziele und internationale Abkommen. Eine Polio-Impfkampagne geriet in den Verdacht, die Impfung mache unfruchtbar. Eine Charta zum Schutz von Kinderrechten kollidierte damit, dass der Islam Strafmündigkeit ab der Geschlechtsreife zuläßt. Und als Nigerias christlicher Präsident Obasanjo die Todesstrafe abschaffen wollte, witterten viele im Norden einen gezielten Angriff auf die Sharia.

So spiegelt sich in Nigeria die psychologische Verknotung wieder,  die auch anderswo das Verhältnis zwischen der islamischen und der westlichen Welt so heillos verkompliziert: Die Muslime fühlen sich stets an den Rand gedrängt, während ihr Gegenüber sie als Bedrohung empfindet.

An der Wand des schlichten Seminarraums hängt ein Bild von Aminu Kano, ein hiesiger muslimischer Reformpolitiker der 70er Jahre. Weil er Mädchenschulen baute und die Alphabetisierung vorantrieb, zeichnete die UNESCO ihn aus. Aminu Kano, selbst Islam-Gelehrter, verbreitete säkulare Bildung, baute Brücken zwischen jenen zwei Identitäten, die sich nun als so gegensätzlich empfinden: die traditionell-islamische und die westlich-moderne. Die Brücken war möglich, heute sind sie eingestürzt.

Die meisten Kinder im Norden kommen mit säkularer Bildung überhaupt nicht in Berührung, besuchen nur eine Koranschule wie diese: Im langen Schatten, den eine Hauswand auf die sandige Straße wirft,  sitzen fünf Dutzend Kinder dicht an dicht. Es sind überwiegend Jungen, das ist nicht immer so, eine kleine Gruppe Mädchen sitzt vorne beim Lehrer. Die Kinder lernen zuerst die Buchstaben des arabischen Alphabets, malen sie auf Holzbrettchen, dann lernen sie den Klang der Koranverse, lernen so das ganze heilige Buch auswendig. Erst viel später, falls sie auf eine weiterführende Islam-Schule gehen, werden sie den Koran verstehen lernen.

Als die Jungen merken, dass sie fotografiert werden, halten sie erst zögernd, dann zunehmend begeistert ihre Koranblätter hoch, springen auf, rufen „Allahu Akbar" - als sei das die einzig richtige Antwort, wenn eine Westlerin mit Kamera vor ihnen steht. Sie lachen dabei, schwenken Mützen, sind ganz hingerissen von ihrer eigenen Aufführung.

Fundamentalistisch oder islamistisch - diese Schlagworte taugen wenig für Nordnigeria. Man erlebt als Ausländerin keine Feindseligkeit; viele wollen reden, sich erklären. Wenn ein Etikett nötig ist, dann wäre es eher dieses: Traditionalismus, der sich anti-westlich eingefärbt hat. -

Fahrt nach Katsina, hochoben im Norden, nicht weit von der Grenze zum Nachbarland Niger.

 In der Einöde außerhalb der Stadt stehen neue Gebäude mit roten Dächern und Klimaanlage - das ist der Beginn von „Nigerias erster islamischer Universität", eine Privatinitiative. 250 Geschäftsleute haben umgerechnet drei Millionen Euro aufgebracht, sie erwarten mehr Geld aus Saudi-Arabien, zur Eröffnung kam immerhin der saudische Botschafter.

Auch in Katsina inspiriert der Glanz der Vergangenheit: Diese Stadt war vom 14. bis ins 16. Jahrhundert ein berühmtes Zentrum islamischer Bildung; um bei ihren Gelehrten zu studieren kamen Muslime selbst aus Marokko. Von der Moschee-Universität steht nur noch das Minarett, ein ockerfarbener Turm, an dessen Treppenfuß sonnenhungrige Eidechsen dösen.

Sani Abubakar Lugga, der wohlhabende Initiator der Universität, hat zum Gespräch in sein Haus geladen. Ein riesiges Empfangszimmer, Scheich Sani, 56, in üppiger Tracht, zur Rechten fünf Telefongeräte, zur Linken vier Handys, ringsum an den Wänden der Eitle selbst im Bild: Er ist der Rangzweite nach dem örtlichen Emir, ein vielgereister Manager, er hat sich in Deutschland und England fortgebildet. Das Ziel der islamischen Universität beschreibt er so: „Modernisierung ohne Verwestlichung".  Das heißt: Säkulare Fächer, Koedukation, Nicht-Muslime sind zugelassen. Aber: „Was immer studiert wird, es muß mit dem Islam übereinstimmen. Natürlich ist Biologie islamische Biologie."

Das Gespräch endet abrupt, es ist Gebetszeit, Scheich Sani entschwindet mitsamt seiner Entourage, jenem Dutzend Männer, die in solchen Zimmern immer anwesend zu sein scheinen; sie hatten Fußball im Satelittenfernsehen geguckt.

Über Personen wie diesen Scheich Sani nimmt Saudi-Arabien Einfluß, doch er bleibt begrenzt. „Izala", eine vom saudischen Purismus geprägte Strömung, war vor 20 Jahren einflußreicher als heute. Izalas Schulen haben den islamischen Fächerkanon modernisiert und zigtausende von Mädchen auf ihre Schulbänke gebracht. Von der Begegnung mit einem führenden Izala-Funktionär bleibt indes nur haften, dass der Mann einen ortsunüblichen arabischen Turban trug („weil der Prophet das getan hat") und dass sein Mobiltelefon als Klingelton „Allahu Akbar" rief.

Manche Intellektuelle hören auf radikale Stimmen, aber die Masse des Volks bleibt einem traditionellen, am Sufismus orientierten Islam treu. Der 70jährige Dahiru Usman Bauchi ist einer der populärsten Sufi-Scheichs. Seine Augen wirken gebrechlich, aber sein Geist ist wach, der Alte spricht lebhaft, unterstreicht seine Worte mit schönen, kräftigen Händen.  Auf die Frage, ob Musik verboten sei, antwortet der Scheich: „Musik ist wie eine Tasche, man kann Erlaubtes oder Verbotenes hinein tun. Sich bei Musik entspannen, ist erlaubt. Wenn Musik Unverheiratete dazu bringt, zusammen zu tanzen, ist sie verboten." Am Ende des Interviews betet er stumm für die Anwesenden, und die versammelten Männer streichen sich zur Bestätigung über die Gesichter.

Weiterfahrt in ein Dorf kurz vor der Landesgrenze, um einen traditionellen Führer an der Basis zu besuchen. Der Sarki, eine Art König von 30 000 Menschen in neun Dörfern, ruht in zitronengelbem Gewand auf einem Liegestuhl, neben sich ein Tischchen mit Essenskrümeln und Fliegen; auf dem Boden sitzt das obligatorische Dutzend Männer. Die Dynastie des kleinen Königs reicht zurück bis vor die Kolonialzeit, er selbst hält den Titel seit 49 Jahren, alles scheint hier auf Dauer angelegt: vier Frauen, 27 Kinder, 125 Enkelkinder; von den meisten wisse er den Namen.

Ein Sohn zeigt die Narben des Clans auf seinen Schläfen, ein doppelter Schrägstrich: Früher dienten die Narben als Erkennungsmerkmal, damit weitläufig Verwandte einander im Kampf nicht versehentlich töteten.

Der Sarki ist kein Hinterwäldler, er hört Deutsche Welle in Haussa und fragt die Besucherin unvermittelt, im Ton eines Salongesprächs: „Sind Sie alt genug, um Hitler gekannt zu haben?" Erst nun fällt auf, dass da zwischen Fliegen und Essenskrümeln eine schwarze Brille lag, der König ist blind. Was die Bauern in seinen neun Dörfern plagt, sieht er nicht mehr, aber kennt es zur Genüge: Nomaden aus dem Niger und sogar aus dem Tschad treiben ihre Herden rücksichtslos über die Äcker, lassen sie die Getreidespeicher ausräubern, die Ernte vernichten. Riesige Rinderherden sind es, manchmal tausende Tiere stark; die Nomaden sind bewaffnet. Der blinde Sarki versucht zu vermitteln; sobald die Konflikte blutig werden, ist nicht mehr er zuständig, sondern die lokale Regierung.

Bauern gegen Nomaden, das ist ein Konfliktmuster auch in anderen Teilen Nigerias. Wenn dabei Christen gegen Muslime kämpfen, gilt es als religiöser Konflikt, und die Welt horcht auf. Hier stehen auf beiden Seiten Muslime, auch Volksverwandte; ein ganz gewöhnlicher Kampf um die Ressourcen der Sahelzone. 

Ein riesiger Lastwagen rattert vorbei, er hüllt die Straße in Staub, die großen weißen Lettern auf dem Wagen sind gerade noch zu erkennen: Möge Allah uns schützen. -

Kaduna, letzte Station der Reise. Hier wird der Norden südlich, Christen und Muslime sind annähernd gleich stark. Wie ein Mahnmal steht das Stahlskelett einer ausgebrannten Kirche im Abendlicht.

Kaduna war früher eine kosmopolitische Stadt, Kirchen und Moscheen, Bierbars und Koranschulen standen fast Wand an Wand. Heute ist Kaduna eine Stadt der Trennung, der Segregation, manche nennen es „Beirut in der Savanne".

Neben dem Skelett der ausgebrannten Kirche gähnt eine freie Fläche, groß wie ein Fußballfeld; hier standen Häuser von Christen. Auf den zerbrochenen Quadern eines Fundaments sitzen junge Männer, junge Muslime. „Hier war Krieg", sagt einer von ihnen, „wir wissen nicht genau, was passiert ist, wir sind erst nach dem Krieg hierhin gezogen." Kein Christ wohnt mehr in diesem Viertel, so wie in einem anderem einst gemischten Viertel kaum ein Muslim mehr wohnt. „Zum Verkauf" hat dort jemand an die Mauern einer brandgeschwärzten Häuserzeile gepinselt; die einstigen Nachbarn verkaufen billig.  

5000 Tote allein in den vergangenen fünf Jahren. Die Kämpfe entzündeten sich an religiösen Empfindlichkeiten und Ängsten, luden sich dann auf mit lokalem politischem Konfliktstoff. Als die Einführung der Sharia angekündigt wurde, demonstrierten Christen unter dem Slogan „Zur Hölle mit Sharia"; im nachfolgenden Gewaltausbruch starben zweitausend Menschen, 80 000 flüchteten aus ihren Häusern. Im Jahr 2002, als in Nigeria während des Fastenmonats ein Miss-World-Wettbewerb ausgetragen werden sollte, brach tödlicher Sturm aus wegen einer unbedachten Bemerkung im Modeteil einer Tageszeitung: Der Prophet hätte sicher eher eine  Schönheitskönigin geheiratet als gegen den Wettbewerb zu protestieren.

Nun liegt wieder Spannung über der Stadt. Christliche Verbände haben die Propheten-Karikaturen verurteilt; das war nicht nur eine beschwichtigende Geste. In ihrer Empfindlichkeit gegenüber religiöser Verunglimpfung stehen Nigerias Christen den Muslimen näher als den säkularisierten Christen  Europas. Kaduna hat aus früheren Krisen gelernt und Prävention geübt. Ein Sicherheitsrat trat zusammen, die Gemeinden konsultierten einander, die Imame warnten in den Moscheen vor Gewalt.

Der Gouverneur, ein Muslim, hatte vorher schon einiges versucht, um der Gewalt den Boden zu nehmen: mit Armutsbekämpfung, mit Mikrokrediten und mit einer Schlichtungsstelle für Streitigkeiten um Land. Die religiös konturierten Kriege trugen meist nur die unteren Schichten aus.

Und die Sharia? Ihre Vorschriften gelten jetzt nur in Kadunas muslimischen Vierteln. Die Segregation, das Kind der Gewalt, hat eine friedenstaugliche Lösung möglich gemacht. Sharia im Puzzle-Format, man könnte es ein Kuriosum der Rechtsgeschichte nennen, wären da nicht die vielen Toten.

Mädchen in T-Shirts, daran erkennt auch ein ungeübtes Auge: Dies ist ein Christenviertel. Oder an der lauten Musik, die aus einem Kiosk für Kassetten und Videos dringt. Es gibt noch andere Zeichen, nur für den kundigen Blick. Ein bestimmter Brotstand am Straßenrand. Oder ein Laden in einem Container. „So etwas würden wir nicht machen", erklärt ein Muslim.

Erst wenn man das alles kennt, die Toten, die Vertriebenen, die Säuberungen und dann noch das „wir", das es bei der Betrachtung eines Brotstands geben kann, sollte man Pastor James Wuye besuchen. Er legt seine dunkelbraune Handprothese zwischen die Papierstapel auf seinem Schreibtisch. Die Prothese ist aus Deutschland, seine Hand verlor der Pastor im Kampf gegen Muslime. Er war der Anführer einer christlichen Miliz, bewaffnet mit Speeren, Macheten und Haß.

Zusammen mit einem Imam, der früher sein Gegner im Straßenkampf war, hat der Pastor das „Interfaith Mediation Centre" aufgebaut: In winzigen Schritten Vertrauen wiederaufbauen zwischen blutig verfeindeten Nachbarn, Gemeinden, Stadtvierteln - das war die Hauptaufgabe in den vergangenen Jahren.

Der Pastor erinnert sich, wie bei den Kämpfen um die Sharia zwei bewaffnete Christen-Mädchen zu ihm sagten: „Geh`aus dem Weg, Frau! Gib uns deine Hose und zieh unsere Röcke an, wenn du nicht kämpfen willst." Christliche Männer, sagt er, räucherten die Häuser von Muslimen aus „wie bei Ratten", draußen warteten Christen-Frauen, um die Fliehenden zu töten. Der Pastor wendet sich einen Moment dem Imam zu: „Stell Dir vor, die sind jetzt ganz normale Ehefrauen und Mütter."

Der Pastor & der Imam, das ist ein Markenzeichen geworden; das berühmte Duo hat ein Buch geschrieben, Nigerias Polizei geschult; vergangenes Jahr bekamen Beide den Bremer Friedenspreis, neulich waren sie nach Kenia eingeladen. Bei all dem aber ist wichtig: Der Begriff inter-religiös ist hier wörtlich zu nehmen, es gibt keine neutrale Zone, keinen säkularen Schonraum, das Ziel ist nicht weniger Religion, nicht weniger glauben, sondern - besser glauben.

Toleranz sei für ihn ein negativer Begriff, sagt der Pastor; richtig sei: Akzeptanz. „In Akzeptanz liegt Heilung, Heilung für dich selbst. Denn du kannst den anderen ja nicht ändern."  Die Linie zwischen Christentum und Islam sei fein, aber sie schneide tief.  Im Alltag, bei den Werten gebe es viel Gemeinsames, aber die Spiritualität sei sehr unterschiedlich.  „Wir predigen keinen Chrislam, wir sagen: Bleib wer du bist, lebe deinen Glauben, und tue es so gut, wie du kannst!"

So schließt sich der Kreis zwischen Politik und Religion. Pastor & Imam lehren auf Seminaren, wie Christen und Muslime gemeinsam gegen die nigerianischen Plagen kämpfen sollen: ihr Handbuch propagiert Good Governance mit einschlägigen Zitaten aus Bibel und Koran, mit Gleichnissen von Mohammed und Jesus.

„Unsere Leidenschaft für Religion ist so stark; mit Religion kannst du hier jemanden dazu bringen, Vater und Mutter umzubringen", sagt der Pastor. „Aber wenn wir wirklich alle gottesfürchtig wären, dann hätte Nigeria nicht solche Probleme."