Die Poesie der bleiernen Zeit


Eine Suche nach dem Islam in der Islamischen Republik

Die Nasen. Etwas stimmt nicht mit ihnen. Zu sehr ähneln sie einander: klein, gleichmäßig hübsch und charakterlos.

Es gibt Nasen-Orte in Teheran, zum Beispiel um den Vanak-Platz, da hängen besonders viele Schilder von Ärzten: „Haut, Haare, Schönheit. Plastische Chirurgie." Junge Frauen mit einem Pflasterverband auf der Nase bummeln an Schaufenstern vorbei, es ist keine Schande, eine operierte Nase zu haben, im Gegenteil. Das Pflaster ruft: Seht her, ich konnte es mir leisten. Eine neue Nase kostet zwei bis drei Monatsgehälter eines Lehrers.

Der suchende Blick einer Frau fährt über die Ärzteschilder. Nase? Nein, Brust, antwortet sie ohne Zögern. Neun Lehrergehälter.

Das „Jaam-e-jam" ist gleichfalls ein Nasen-Ort, eine Ansammlung von Restaurants unter einem Dach, ein Foodcourt, man ißt japanisch und trinkt Café Latte. Hier trifft sich die Jeunesse d`orée aus dem wohlhabenden Teheraner Norden, schick und entsetzlich gelangweilt. Die Mädchen rauchen und tragen enge Mantelkleider über Jeans in Capri-Länge, pinkfarbene Schühchen und Stupsnasen.

Kleine Fluchten, 1001 kleine Fluchten. Eine Nase ist leichter zu korrigieren als ein System. Und der Wunsch nach Schönheit, nach makelloser Schönheit ist groß in diesem Land. Auch unter einem schwarzen Tschador kann eine perfekt manikürte Hand zum Vorschein kommen.

Ist es erlaubt, vom Bedürfnis nach Schönheit zu erzählen, während die Welt über Irans Atomprogramm redet? Vielleicht muß man gerade jetzt davon erzählen. Damit sich mit der heraufziehenden neuen Eiszeit nicht wieder der Vorhang senkt, hinter dem dieses Land lange genug verschwunden war.

Teheran, im 25. Jahr der Islamischen Revolution. Das grüne Eisentor der ehemaligen US-Botschaft ist versperrt, tote Diplomatie seit einem Vierteljahrhundert.  Am 4. November 1979 stürmten revolutionäre Studenten die Botschaft, 444 Tage währte die berühmte Geiselaffäre. Zeitgeschichte, erstarrt in  Parolen und Gemälden auf der hohen Ziegelmauer. Frisch nachgepinselt ein Slogan in ungelenkem Englisch, hadernd mit der imperialistischen Grammatik: Nach Israel sei Amerika der meistgehaßte Feind der iranischen Nation.

Frage an zwei Polizeioffiziere, die vor der Botschaft den Verkehr überwachen: Wie ist es mit dem Hass? „Fragen Sie die Nation. Ich persönlich glaube es nicht", sagt der eine. Der andere antwortet mit einer Gedichtzeile: Im Wesen des Islam habe Gewalt keinen Platz. Dann sagt er: „See you."

         Nichts ist gewiß hier, mit jedem Schritt wird eine Erwartung dementiert.

         Wie wenig islamisch Teheran wirkt! Kaum ein Gebetsruf zu hören in dieser Stadt von 14 Millionen Menschen, selten eine spontane religiöse Geste zu beobachten. Das Freitagsgebet findet auf dem Campus der Universität statt, ein politischer Ort; wer dort hingeht, möchte gesehen werden. Vom Frauensektor aus ist der Prediger nur zu hören, ein politisch hochrangiger Geistlicher, er verteidigt Irans Nuklearprogramm. Die Männer rufen: „Gott grüße Mohammed und seine Familie", eine Formel, die Zustimmung bedeutet. Bei den Frauen bleibt es still. Eine ältere Aufseherin begleitet die Reporterin zum Ausgang und sagt: „Wenn ich keine Verantwortung für meine Familie hätte, würde ich ein trockenes Stück Brot einpacken, reisen und mir die Welt ansehen."

       Der durchdringende dunkle Blick von Imam Chomeini fällt von hohen Hauswänden hinunter auf achtlos scheinende Passanten. Der verstorbene Gründer der Islamischen Republik wächst auf den Gemälden wie ein Riese aus Feldern roter Tulpen, rot wie das Blut der Märtyrer. Nachdem sich die Konservativen vor einem halben Jahr die Mehrheit der Parlamentssitze sicherten, begannen ausländische Beobachter die Märtyrerbilder zu zählen; sie gelten als Barometer für den Machtanspruch des Regimes über die Gesellschaft. „Ach", sagt eine Teheranerin, „wir sehen diese Bilder gar nicht mehr. Sie sind für uns wie Bäume."

     Jede Antwort dementiert eine Erwartung. Hier empfängt ein Volk von Individualisten. Es kleidet in poetische Worte, wie bleiern die Zeiten sind.

        Viele leben nie ganz frei von Angst, und doch ist das Land nicht in Flüstern versunken.

       Die Luft ist voller Geschimpfe. So schimpft, wer sich in der Mehrheit weiß. Wer ist schuld am schlechten iranischen Fußball? Die Mullahs. Wer ist schuld am Verkehrsstau? Die Mullahs. In einer Bäckerei knetet der Bäcker den Brotteig mit einer aschenden Kippe im Mund; eine Kundin beschwert sich darüber, da ruft der Bäcker: „Es gibt aber auch gar keine Freiheit in diesem Land!"

         Schimpfen ist ein Ventil, auch Ausdruck von Hilflosigkeit, und Spott eine Waffe, wo es an anderen mangelt. So sehr sich die meisten Iraner grundlegende Reformen wünschen mögen: in Atem hält sie die Sorge um das eigene Dasein. Die Gelangweilten mit kleinen Nasen markieren nur das eine Ende der Gesellschaft; am anderen Ende blitzen Messer auf, als an einer Straßenecke Tagelöhner um ein wenig Arbeit konkurrieren.

         Der junge Mann am Lenkrad des Sammeltaxis schiebt eine CD ohne Aufschrift in sein Gerät,  provozierend laute Pop-Musik setzt ein, so geht die Fahrt durch`s Zentrum, mit offenen Fenstern dicht an Polizisten vorbei. Für einen Moment schießt dieses prickelnde, pubertäre Gefühl von Ersatzfreiheit hoch; so fahren die Jungen abends die Boulevards auf und ab, sofern sie sich ein Auto leisten können. Offiziell ist Pop immer noch verboten, aber jeder Haushalt mit Computer lädt Musik aus dem Internet herunter, meist persischen Pop, aufgenommen in Kalifornien.

       Verbotenes oder Verpöntes zu tun, gehört zum Alltag der städtischen Mittelschichten, Regelbruch ist ein Massenphänomen. Nur die Ängstlichsten verbergen ihre Satellitenschüsseln noch morgens in der Wohnung, schleppen sie abends wieder auf den Balkon. Die Revolutionswächter, einst gefürchtet, gelten als frustriert und korrupt; vor einer Feier bekommen sie Geld, damit sie die Kontrolle vergessen und die weiblichen Gäste sich dekolettieren können. Alkohol ist erstaunlich leicht erhältlich. Nicht dass jeder tränke; aber wer will, findet Wege. Selbstgemachter Rotwein kommt daheim in Rosenwasser-Flaschen auf den Tisch; den Import-Whisky verkauft stickum der Obsthändler im Viertel. Ethanol-Alkohol aus der Apotheke, 96prozentig, wird mit der gleichen Menge Mineralwasser verdünnt, dazu der Saft frischer Limonen, fertig ist der iranische Wodka-Lemon.

        Soviel Doppelleben. Öffentlicher und  privater Raum sind getrennte Welten, hier und dort gelten verschiedene Werte, Normen, Verhaltenserwartungen. Nahezu jede Familie hütet Geheimnisse. Um sie zu wahren, lernen viele Kinder früh das Lügen, lernen zu unterscheiden, was sie in der Schule sagen dürfen, welcher Freundin sie was erzählen dürfen. „Antennen", Spione, werden im Schülerjargon die Kinder regierungsnaher Eltern genannt.

            Ein Teheraner Mädchengymnasium lädt zum Elternnachmittag. Vier Väter und drei Dutzend Mütter sind gekommen. Dies ist eine besondere Schule, eine Art private Modellschule, sie heißt „Kreativ Denken". Heute ist ein Psychologe zu Gast; Abdurrazah  Kordi arbeitet an einem gleichfalls privaten Beratungszentrum,  er spricht  mit den Eltern darüber, was das Doppelleben der Erwachsenen in den Seelen der Kinder anrichtet.. „Wir verkörpern keine stabilen Werte", sagt er. „Die Kinder können sich nicht mit uns identifizieren. Sie wissen nicht, was richtig und was falsch ist. Sie sind deshalb gestreßt und leistungsgehemmt."

Der Familienpsychologe gehört zu den ganz wenigen im Iran, die wissenschaftlich ergründen, was diese erstarrte Islamische Republik aus den Menschen macht.  „Paradoxe Identitäten", diagnostiziert er, spricht von „Zwei-Sein", von „Doppelcharakteren". Mehr als eine Milliarde Schmerztabletten schluckten die Iraner pro Jahr, viele Frauen würden depressiv. „Wir haben zuviel Parolen gehört. Wir haben nicht gelernt zu leben."

         Nach dem Vortrag bricht es aus einem Vater heraus: „Unser Land ist ein Monolog-Land! Die eine Seite redet, die andere muß zuhören. Unsere Kinder müssen lernen zu reden. Wir müssen jedes Kind einmal in der Woche vorne hinstellen und ihm sagen: Rede! Rede!!"

            Der iranischen Gesellschaft seien „multiple Persönlichkeiten" zur zweiten Natur geworden, schreibt die Soziologin Masserat Amir-Ebrahimi. „Für viele Jugendliche ist die Hauptfrage heute: Wer bin ich?" Sie finden nur Spiegel, die ihnen ein Zerrbild zurückwerfen. Aus einer Öffentlichkeit, die den Sitz des Kopftuchs und die Farbe des Mantel vorschreibt, fliehen sie in einen künstlichen Raum, den virtuellen. 64 000 junge Iraner schreiben Weblogs, Tagebücher im Internet, meist unter falschem Namen. Vieles ist unpolitisch, eine Suche nach Identität oder ein Spiel mit Probe-Identitäten: Wer könnte ich sein? Die Bewegung begann vor drei Jahren, persisch gehört heute zu den weltweit meistbenutzen Weblog-Sprachen. „Manchmal vergißt Du, wer Du bist. Wenn ich mein Weblog lese und mich da sehe, beruhigt mich das, und ich fühle mich besser", schreibt eine Webloggerin.

        Gerade wurden einige Weblogger verhaftet. Der religiöse Staatsschutz durchfiltert das Internet. „Banned phrase found", steht dann auf dem weißen Bildschirm.

 

         Flüstern. Kichern. Chipstüten knistern. Im Fastdunkel des Kinosaals rücken hier und dort die Silhouetten zweier Köpfe zentimeterweise zusammen, bis die Kopftuch-Silhouette querliegt, an der Schulter des Jungen. Der Film heißt „Kerzen im Wind" , es ist die Geschichte eines jungen Mannes, den die verzweifelte Suche nach innerer Ruhe, nach innerem Gleichgewicht durch alle erdenklichen Drogen treibt. Eine wahre Geschichte, sagt der Vorspann.            

        Alle Probleme einer jungen städtischen Mittelschicht türmen sich in diesem Film aufeinander: Scheidungen, Selbstmorde, Depressionen, Sinnsuche. Ein Arzt, der zu Drogen verführt, statt von ihnen zu heilen, stürzt sich vom höchsten Gebäude Teherans, in ein phantasiertes Blumenfeld, das den Blut-Tulpen der Märtyrergemälde ähnelt wie zum Hohn. In diesem Kaleidoskop zerfallender Sitten gilt nur ein Gebot: der Kopftuch-Befehl. Als hinge die Islamische Republik moralisch an diesem einen Nagel. Die Mädchen, die auf einer privaten Party im Ecstasy-Rausch tanzen, zappelnd wie halbtote Fische, tragen für den Film dazu ein dezentes Kopftuch. Heiterkeit im Kinosaal.

        Im Iran werden pro Stunde 44 Menschen verhaftet wegen Drogendelikten, sagte kürzlich der Drogenexperte des Staatspräsidenten; meist seien es Abhängige. Das summiert sich zu über einer Million Festnahmen in den vergangenen drei Jahren. 60 Cent kostet ein Schuß Heroin. Drogenkonsum durchzieht alle Schichten, verbindet Dorf und Stadt, Arm und Reich, hängt wie ein Seufzer der Resignation über der Jugend.    

         Jung scheint das ganze Land, zwei Drittel der Iraner sind unter 25, geboren nach der Revolution. Und viele Junge sind gut gebildet; die Islamische Republik hat die Zahl der Universitätsstudenten verzehnfacht, hat die Mädchen aus dem dunklen Tal des Analphabetismus geholt. Sie stellen heute an den Unis sogar die Mehrheit.  Aber dieser Fortschritt staut sich in ein Nichts hinein: keine Jobs für 100 000 neue Akademiker pro Jahr, keine geistige Freiheit für die Gebildeten, nicht einmal Unterhaltung für die Gelangweilten.

        Für kurze Zeit schien alles anders. „Wir fühlten uns wie eine große Welle", erzählt die 20jährige Pegah Ahangarani, „wir stürmten nach vorne, wir hatten soviel vor." Das war vor gut drei Jahren, die Schauspielerin war mit 17 die Jüngste im Wahlkampfteam von Präsident Chatami. Die Hoffnung auf Reformen riss viele Jugendliche aus ihrer Lethargie, „es war unglaublich, wie sich die Leute veränderten, manche lasen plötzlich Bücher statt ihre Lautsprecherboxen aufzudrehen!" Die Euphorie ist nun schon wieder Geschichte, Chatami hat als Reformer versagt. „Wir merkten, wir waren alleine losgestürmt, der Anführer blieb zurück. Jetzt sind alle total frustriert."

        Pegah faßt sich an den Kopf. „Warum sind die Politiker so dumm? Warum nutzen sie unsere Energie nicht?" Sie spielt Cello, wollte mit einer Gruppe ein klassisches Konzert geben - keine Genehmigung. „Immer laufen wir gegen eine Wand, eine Wand! Sie wollen nicht, dass wir an uns selbst glauben." Die meisten ihrer Freunde, sagt sie, glaubten ohnehin an gar nichts mehr.    

         Auf der Suche nach dem Islam in der Islamischen Republik. An manchen Tagen scheint es, als hätte der Gottesstaat Gott aus den Herzen vertrieben. „Unter dem Schah haben wir auf der Straße getrunken und zu Hause gebetet; jetzt ist es umgekehrt." Eine iranische Redensart über das Doppelleben in zwei Systemen. Doch sie trifft nicht ganz. Denn die Suche nach Religiösität führt weg von der Straße, sie führt ins Private, zu Menschen, die ihren ganz persönlichen Glauben leben.

         Ein kleines Apartment in einem Randbezirk Teherans. Von der Wohnungstür fällt der Blick auf eine große Kalligraphie, gold auf schwarz ein kühn geschwungenes Bismillah, im Namen Gottes, des Barmherzigen. Dem Schriftzug fehlt ein Stück - verfremdete religiöse Kunst. Die Einrichtung der Wohnung ist schlicht und modern; so richtet sich eine Frau ein, die nach einer Scheidung mit Mitte 40 ihr Leben neu ordnet. Nilofar Ruzbeh (dies ist nicht ihr wirklicher Name) nannte sich konfessionslos, als die Islamische Revolution siegte; religiös wurde sie später, als ihre Mutter einen schwerem Unfall wie durch ein Wunder überlebte. „Mein Glaube", sagt die Lehrerin, „hat mit diesem Staat absolut nichts zu tun. Wir religiösen Iraner sind sehr wütend auf die Regierung, denn sie hat dem Ansehen des Islam so geschadet." Sie betet fünfmal am Tag, doch nur, wenn niemand zusieht. Sie würde lieber ohne Kopftuch ausgehen, doch mehr als diese Äußerlichkeit bedrückt sie, dass sie ihre Scheidung verschweigen muß. Sie trägt immer noch den Ehering: eine allein lebende Frau gilt als verdächtig, als schutzlos und schlecht.

        Vor drei Jahren gestand ihr der jüngste Sohn, er sei schwul. Der 18jährige war erstaunt, wie gelassen seine religiöse Mutter reagierte. Homosexualität wird im Koran untersagt, im Iran steht darauf die Todesstrafe, auch wenn sie seit zehn Jahren nicht vollstreckt wurde. „Meine Sorge war vor allem, welche Wirkung es auf den Jungen hat, wenn er immer lügen muß, sich immer verstellen muß", sagt Nilofar Ruzbeh. „Ich hatte Angst, aus ihm könnte ein Lügner werden für den Rest seines Leben." Über das koranische Verbot der Homosexualität sagt sie: „Gott hat mir einen Verstand gegeben, damit ich selbständig denke. Zur Zeit des Propheten ging es um die sexuellen Praktiken von Heteromännern, nicht um Schwule, die sich lieben." Unvermittelt beginnt sie zu weinen. Ihr Mann, sagt sie, zwang sie noch kurz vor der Scheidung zum Sex. „Ist das nicht ein viel größeres Tabu? Aber dazu sagt der Koran nichts." Sie zündet sich eine Zigarette an, macht sich am Fenster zu schaffen, um ihr Gesicht zu verbergen.

Ihr Sohn Avesta (*) ist nun 21. „Vor fünf Jahren", erzählt er, „begann die erste vorsichtige Kommunikation von Schwulen übers Internet. Vor vier Jahren hatten wir die erste Party. Es kamen 20 Leute, das werde ich nie vergessen! Danach ging alles unheimlich schnell, jeden Tag kamen fünf, sechs Leute dazu. Heute kenne ich in Teheran flüchtig mindestens 500 Schwule." Avestas Partner ist drei Jahre älter, für ihn verkörpert der Jüngere bereits eine „neue Generation". Denn er selbst durchlitt als Heranwachsender noch die Internetlose Zeit dumpfer Isolation, seine Gefühle eingesperrt in der schwarzen Box des religiösen Tabus. Eine Szene, Parties, Partner -  alles unvorstellbar.

        Abend in Teheran: Von der dunklen Straße ist durch eine große Glasscheibe das hellerleuchtete Innere eines Cafés perfekt zu sehen. Moderne Malerei, schlichte Holztische, die Gäste fast ausschließlich Männer. Sie trinken Milchkaffee oder Wasser mit Blumenaroma, um elf Uhr ist Schluß. Alles so unschuldig. Einen Hangout für Schwule in der Islamischen Republik hätte man sich klandestiner vorgestellt.

 Die Gäste begrüßen sich mit Wangenküsschen, links, rechts, links, aber so begrüßen sich im Iran auch andere Männer. Manche halten am Tisch Händchen, hellbeleuchtet, aber in Persien sieht man sogar Mullahs händchenhaltend. Viel Gel im Haar, manche tragen ihren Ring am Daumen, das galt einmal als Erkennungszeichen. Eine neue Parfümmarke wird zum Probeschnuppern herum gereicht.

Diskussion mit einer Runde Mittzwanziger: Ihr Englisch ist gut, manche arbeiten bei ausländischen Firmen, das seien „tolerante Jobs". Ihr Freundeskreis ist meist ausschließlich schwul, denn die Hetero-Altersgenossen fragten als erstes: Hast Du eine Freundin? Habt ihr Sex? Was anderen als Befreiung gilt, erlebt diese Minderheit als neue repressive Norm: Du mußt vom Sex mit einem Mädchen erzählen können, um zu bestehen. „Ausländische Beobachter übersehen oft", sagt einer in der Runde, „dass unser Hauptproblem nicht die Behörden sind, sondern die intolerante Kultur unserer Gesellschaft." Es gibt einen Schwulen-Code in Farsi, dem Persischen, damit verdächtige Worte nicht zu den Ohren von Mithörern dringen.

 

       Fahrt nach Qom, in die heilige Stadt, zwei Autostunden von Teheran entfernt. Eine Wüstenstadt. Das Klima heiß und trocken, die Häuser flach, das Wasser versalzen. Wer hierhin kommt, tut es des Glaubens wegen. 40 000 Geistliche studieren an Qoms religiösen Hochschulen. Mullahs mit Lederpantöffelchen und Frauen im schwarzen Tschador prägen das Straßenbild.

          Der Fahrer des Mietwagens schaltet seine Popmusik-Kassette abrupt ab.

          Ein grüner Campus, ein Gebäude mit Glasfassade. Im konservativen Lehrbetrieb von Qom hat die private Mofid-Hochschule eine Sonderstellung. Die Studenten werden mit modernem Stoff vertraut gemacht, lernen auch westliche Philosophen kennen. Der Geistliche Mohammad Taqi Fazel Meybodi empfängt in einem schmalen Büro, das von der Prominenz dieses 50jährigen nichts verrät. Der Mann mit weißem Turban gehört zur kleinen Riege von Irans Reformtheologen, religiöse Aufklärer, die den Islam neu denken, ihn aus der erstickenden Umklammerung des Staats befreien wollen.

       Meybodi ist ein selbstsicherer Mann, er begrüßt leutselig, mit einem Scherz, doch schreibt ein Gehilfe jedes Wort des Meisters mit. Die Zukunft des Islam in der Islamischen Republik mit einer ausländischen Journalistin zu erörtern, das ist politisch abschüssiges Gelände.

       „Die religiösen Posten müssen von den staatlichen getrennt werden", sagt Meybodi. „Der Staat darf weder ein Interpret noch ein Aufpasser über religiöse Dinge sein. Und Religion darf nicht als Damm gegen Freiheitsbestrebungen mißbraucht werden." Eine Generalkritik an der religiösen Staatsdoktrin des Iran, der sogenannten Herrschaft der Rechtsgelehrten.

Ähnlich wie für einen modernen Christen ist für Meybodi Religion vor allem ein Gerüst von Werten. Dennoch ist er kein Säkularist im westlichen Sinn: Der Islam beschränke sich nicht auf das private Leben. „Islam ist politisch, aber er soll nicht herrschen, nein!" Vielmehr müsse nach einer neuen Definition für den Platz der Religion im Leben der Menschen gesucht werden.

       Ein paar Tage später, zurück in Teheran. Ausgerechnet beim Fußball-Länderspiel Deutschland-Iran wird eine Lektion erteilt über den Platz der Religion. Zwei Stunden vor Beginn ist das Azadi-Stadion vollgepackt mit hunderttausend Zuschauern, die Stimmung ist phantastisch - aus den Stadionlautsprechern wummern Disko-Rythmen! Die Staatsführung scheint über den eigenen Schatten gesprungen, die Iraner feiern ausgelassen. Plötzlich Unterbrechung: eine religiöse Ansprache, „Gott segne unsere Märtyrer". Im Hintergrund gehen die „Iran-Iran"-Sprechchöre weiter. Dann die Übertragung des Abendgebets. Aber wer will beten, wenn Hunderttausend einem Spiel entgegenfiebern? Stille. Passiver Gehorsam, erzwungen mit dem Mittel der Religion. Lernt man so,  Religiöses zu hassen? Bevor die letzte arabische Silbe des Gebets gesprochen ist, bricht wie ein Jubelschrei der Lärm im Stadion los. Vor dem Nachthimmel leuchten die Bilder der Führer, des einstigen und des jetzigen: Chomeini, Chamenei. Wieder Diskomusik.

Das Wohnzimmer von Simin Behbahani, der alten Dame der oppositioneller Poesie, ist ein Salon mit einem unüberschaubaren Batallion von Sesseln und Stühlen. Die Behbahani selbst, nun weit über 70, ist eine Erscheinung: Das Haar halb weiß, halb pechschwarz, der Lidstrich extravagant, die Ohrringe gewaltig. Wie haben die Konservativen sie gehaßt! Weil die Dichterin ihrem Publikum einmal Kusshändchen zuwarf, wurde sie in den Zeitungen als Hure beschimpft. Und nun das Überraschende: Die Frau, die in Irans Öffentlichkeit stets die säkulare Oppositionelle war,  trägt ein Allah-Zeichen an einer Kette um den Hals. „Glaube", sagt die alte Dame, „wohnt nur im Herzen."

Sie schreibt an ihrer Autobiographie, sie ist nicht die einzige, der politische Stillstand ist eine Zeit der Besinnung. Und wie im Selbstgespräch beginnt die Behbahani plötzlich, aus einem ihrer Gedichte zu rezitieren. „Ich bin ein Stück von diesem Land. Wenn ich aufstehe, bin ich ein Baum voller Schatten. Trennt meine Wurzeln nicht mit einer Axt ab. Ach, ihr Feinde, was habe ich euch getan? Als hätte ich eine Schlange geboren, die mich beißt. Ich bin 70 Jahre hier geblieben, damit ich ein Meter siebzig Grab bekomme in der Erde meiner Heimat."

       Durch die Redaktionsräume der Zeitung „Dschumhuriat" weht eine bedrückte Fröhlichkeit; als träfen sich gute Freunde am Bett eines Kranken. Seit vier Wochen darf die Zeitung nicht mehr erscheinen, man könnte sagen, sie sei tot, aber der Chefredakteur Emadeddin Baghi hofft noch, sie läge nur „im Koma", Rückkehr ins Leben nicht ausgeschlossen. Dabei ist „Dschumhuriat" (Republik) überhaupt nur zwei Wochen lang erschienen, 13 kostbare Ausgaben, aufbewahrt in einem blauen Ringhefter. Gute Fotos, klares Layout. „Immer mehr Mädchen laufen von zu Hause weg", lautete eine Überschrift. Die Zeitung war sozialpolitisch orientiert, eine Neugründung der Reformer nach dem Sieg der Konservativen.

        60 Journalisten sind heute in die Redaktionsräume gekommen, um zu hören, dass ihre Gehälter im Koma nicht weiter bezahlt werden können. Sie sitzen um die nun leeren weißen Tische herum, ein paar Lexika stehen noch da und Aktenablagen; es werden Erinnerungsfotos gemacht. Viele der Kollegen sind schon von Zeitung zu Zeitung gewandert, im Takt der Publikationsverbote. Und wie überall, wo sich Iraner mit Mut und langem Atem für Veränderungen einsetzen, sieht man hier nicht die Trendigen, Schicken, Coolen, sondern eher gemäßigt religiöse Leute. Die Frauen konservativ gekleidet, die Gesichter kaum geschminkt und eng umrahmt von der schwarzen Maghna´e, einem Tuch, das bis zur Brust reicht. Die Maghna´e ist sozusagen das kleine Schwarze der zielbewußten jungen Iranerin.

      Baghi, der Chefredakteur, ein bedächtiger, kräftiger Mann mit ergrauendem Bart, hat drei Jahre im Gefängnis gesessen, weil er die Drahtzieher von Morden an Regimegegnern enthüllte. Von seinen zahlreichen Büchern ist jedes Dritte verboten. Wie die meisten Reformer war Baghi als junger Mann ein Aktivist der Revolution; deren Anfangsmotive, Freiheit und soziale Gerechtigkeit, nimmt er heute in Schutz gegen deren spätere „Korumpierung". Seine älteste Tochter, 23, sitzt bei dem Gespräch dabei, und wenn man sie fragt, ob sie den Vater für sein damaliges Verhalten  kritisiere, schauen sich die beiden einen Moment verlegen an und Baghi errötet. Ja, das sei Thema in der Familie, wie in vielen Familien. Im Hause Baghi komme indes mehr Kritik von den jüngeren Töchtern, sagt der Vater.

         Ein iranischer Generationskonflikt; seine Konturen sind durchaus universell: Den skeptischen und politisch oft teilnahmslosen Kindern der Revolution erscheint unbegreiflich, wofür sich ihre Eltern oder Großeltern begeisterten -  und warum sich im zwangsverwestlichten Iran des Schah auch säkulare Intellektuelle hinter die Fahne des Islam stellten. Typisch diese Situation am Couchtisch einer Familie: „Wie konnten gebildete Leute nur an solche Parolen glauben: Gerechtigkeit, Unabhängigkeit! Leere Worte!" ereifert sich ein junger Ingenieur. Seine Schwester, eine Wirtschaftsstudentin: „Sie machten die Revolution, und wir hocken mit dem Mist heute noch da!" Die ältere Generation sitzt auf der anderen Seite des Couchtischs und schweigt.

       Isfahan. Die Perlen persischer Moschee-Architektur sind abends angestrahlt,  märchenhafte Kulisse umstellt den berühmten Königsplatz. Aus einem Park nahebei schwingen sich Fetzen klassischer Musik herüber. „Malen Sie mein Land nicht schwärzer und nicht weißer, als es ist", hatte Shirin Ebadi, die Friedensnobelpreisträgerin, der Besucherin aufgetragen. Das Gespräch handelte von Todesurteilen für Minderjährige. Und nun dieser Platz hier, soviel Schönheit, soviel Friedlichkeit. Wie schnell schreibt man zu schwarz, zu weiß.

         Isfahan ist ein Ort für Exkursionen ins Bürgertum. Alles erscheint hier ein wenig ruhiger, gediegener, weniger zerrissen als in Teheran.

         Diskussion mit einer Familie: Ärzte, Ingenieure, allesamt Angehörige der oberen Mittelschicht, gebildet und politisch nicht engagiert. Das Gespräch beginnt mit einem Auftrag: „Bitte drucken Sie in Ihrer Zeitung folgendes", sagt eine Kinderärztin resolut: „Die Iraner sind beleidigt über das Bild, das im Westen von unserem Land gezeichnet wird. Alles, was hier falsch oder schlecht ist, wird bei Ihnen aufgebauscht." Alle um den Tisch verteidigen den Iran, seine Kultur, seine Familienbezogenheit - und erst als dies alles gebührend notiert ist, nimmt das Gespräch abrupt eine andere Wendung. Nun wird geschimpft, aus allen Richtungen: Dieses System hat mit autoritärem Kommunismus mehr gemein als mit Islam!, sagt der eine. Ein anderer erinnert an die islamische Eroberung Persiens vor 1400 Jahren und sagt: Die Mullah-Regierung ist die zweite Invasion der Araber.

         Um Identität geht es auch in solchen Gesprächen. Den Regierungs-Islam arabisch zu nennen, dient der Distanzierung von den Mullahs und der Ehrenrettung des Persischen. Geistliche, die einen schwarzen Turban tragen, führen ihre Abstammung zurück auf Nachfahren des Propheten Mohammed. Dass ihre Urahnen folglich von der arabischen Halbinsel gekommen sein müssen, gerät zum Argument, die regierenden Kleriker als eine Art Fremdherrschaft zu betrachten. Ihnen fehle der Sinn für persische Kultur, ihre Herrschaft sei dem Iran wesensfremd. Entlastung und Vergangenheitsverklärung: Die Abneigung gegen die Mullahs hat eine neue Mode kreiert, Symbole aus vorislamischer Zeit populär gemacht. Zoroastrische Motive erfahren als Design-Element eine Renaissance, junge Weblogger legen sich zoroastrische Tarnnamen zu. 

         Einladung zu einer privaten Isfahaner Party, Ladies only. Die jüngste 20, die älteste 68. Ein Fest der Sinne, alles ist opulent. Berge von Blumen für die Gastgeberin quillen zur Tür herein, begleitet von heftigen Parfümwolken. Schweres Make-up, enge Kleider, es wird ausgelassen und sexy getanzt, dazwischen ständig Obst und Süßes aus überquellenden Schalen gereicht, anzügliche Witze gerissen, eine Sängerin tritt auf, und als nach vier Stunden der Lärmpegel abfällt und sich alle wieder in Mäntel und Kopftücher hüllen, sagt eine Frau aus tiefster Zufriedenheit zu der Besucherin aus Deutschland: „Siehst Du, wir im Iran, wir haben einfach alles."

Zur persischen Bürgerlichkeit gehört auch dieses Bild: Ein stilles, großes Wohnzimmer. Auf einem runden Tisch eine Flotte von Bilderrähmchen mit Familienfotos. Fünf Söhne, nun alle erwachsen. Diplom, Doktorhut, Hochzeit. Alle fünf leben im Ausland, die Mutter hat sie selbst dazu gedrängt: Welche Perspektive hätten sie denn hier?!  Nun ist sie allein in diesem zu stillen, zu großen Haus, mit 156 Satellitenkanälen und einer Schachtel Antidepressiva. -

 

Zehn Stunden Busfahrt nach Südosten. Jedesmal, wenn man den Vorhang des Busfensters zur Seite schiebt, ist die Wüste noch da. Konturen von Bergen am Horizont, staubverhüllt. Ein Dorf in Mittagshitze. Frauen im Tschador, nur ihre Nasen ragen heraus, orientalische Nasen, unverkleinert. An der Straße, zwischen Kugelbauten aus Lehm, sitzt der Dorfidiot, grimassierend. Traumgleiche Szenen.

Kerman, Provinzhauptstadt. Was sind kleine Fluchten in der Provinz? Auf der Hauptstraße stehend Moped fahren, für ein paar Sekunden. Oder Kermaner Halbstarken-Schick tragen: Schwarze Nadelstreifenhose, die über`m Schenkel spannt, tailliertes schwarzes Hemd, dickes Gürtelschloss. Da würden die Teheraner lächeln. Hier entrüsten sich Väter.

Das Paradies des Unbeobachtetseins liegt 35 Kilometer außerhalb der Stadt; eine altpersische Gartenanlage mit Blumen und Wasserspielen. Nicht, dass es hier lauschige Verstecke gäbe. Aber der Prinzengarten ist, nach den niemals verstehbaren iranischen Kriterien, ein toleranter Ort.  Teppichbedeckte Liegen, Dattelkuchen, Händchenhalten. Ach, wieviele Regeln gilt es zu beachten und wie undurchschaubar ist das System, nach dem sie verletzt werden dürfen! Ein Mädchen aus Kerman soll sich vor der Hochzeit nicht die Haare färben und nicht die Augenbrauen zupfen. Denn Augenbrauenzupfen markiert die Grenze zwischen Mädchen und Frau. Die Studentin von der Südküste darf hingegen rötliche Haarsträhnen und hellblaue Fingernägel haben - aber sie darf den Jungen, in dessen Arme sie sich gerade schmiegt, nicht heiraten: Weil sie zwei Jahre älter ist als er.

Irgendwo in diesem heißen Süden gibt es eine Adresse, die sich Mädchen in Yazd oder Shiraz oder Zahedan zuflüstern, wenn sich die Praxis des Lebens und die Regeln einer traditionellen Gesellschaft  zu weit voneinander entfernt haben. Golduzi, Blumensticken, nennt es der Volksmund poetisch, wenn dieser verschwiegene Arzt eine Frau wieder zur Jungfrau macht. 250 Euro kostet die neue Blume, ein Vermögen für ein Provinzmädchen, doch existentieller als eine neue Nase.

            Nicht leicht zu sagen, wer hier wen betrügt. Manchmal will die Braut dem Bräutigam ihre sexuellen Erfahrungen verheimlichen. Doch oft bezahlt der Bräutigam die neue Blume, nachdem er die erste selbst zerstörte - es gilt, den Schein für den Rest der Familie zu wahren, mit einem befleckten Laken. Wenn der Arzt den Eindruck hat, die neue Blume werde vielleicht nicht bluten, stichelt er drei Tage vor der Hochzeit ein paar zusätzliche Nähte, deren Verletzung garantiert Flecken hinterlassen wird; der Betrug ist verläßlicher als Mutter Natur. Manche Mädchen kommen mehrfach zum Golduzi, so wirr sind die Zeiten. -

In Teheran hat der Herbst begonnen, ein Herbst der Melancholie. In den Weblogs fallen die Blätter, die Metaphern sind schwermütig, als sei Irans Jugend ständig unglücklich verliebt. „Straße der Sehnsüchte" nennt eine Jugendzeitschrift ihre Leserbriefseite.

       Und immer taucht irgendwo ein Vers von Sohrab Sepehri auf, dem Maler und Dichter. Er starb an Leukämie, als diese Generation geboren wurde; in den Herzen seiner Anhänger bleibt er ein ewig junger Toter. Seine Verse werden an Straßenecken verkauft, jeder kennt die Inschrift auf dem Grab des Idols: „Nähere Dich langsam, damit meine zarte Einsamkeit nicht zerbricht." Irans Jugendliche  finden in Sohrabs schlichten sentimentalen Zeilen etwas Rares: Intimität. Eine Welt fern der Parolen, fern der Verlogenheit. Eine Welt, in der jeder sogar die Richtung seines Gebets wählen könnte: „Mein Mekka ist eine rote Rose."