Die schüttere Sehnsucht nach Europa
Eine Reise durch Kultur und koloniales Erbe im Senegal

Im äußersten Westen Afrikas schiebt sich eine kleine Landnase in den Atlantik: Das ist Dakar. Der Name schmeckt nach Wüstenstaub und Motorenlärm: Paris-Dakar, die Rallye. In Wirklichkeit weht meist frischer Seewind durch Senegals Hauptstadt - und « Paris-Dakar », so hieß hier lange vor der Rallye, vor bald hundert Jahren, eine Zeitung. Geistig, kulturell hat sich der Senegal Europa immer weit entgegen gereckt, heftiger und auch schmerzlicher als irgendein anderes Land Schwarzafrikas.

Am Place de l’Independance begrüßen artig beschnittene Bäumchen. Weiße Kolonialbauten, daneben die optimistisch aufschießende Architektur der frühen Unabhängigkeit: Dakar überrascht in seinem Zentrum mit einem Flair von Metropole, von gelassener, geordneter Urbanität. Unter den Arkaden einer Bank waschen junge Burschen ein paar Meter Marmorbürgersteig. Ist das wirklich die Sahelzone?

Die Stirnseite von Dakars prominentestem Platz ziert eine Inschrift: Zum Gedenken an die senegalesischen Gefallenen zweier Weltkriege. Schwarze Soldaten kämpften und starben für die französischen Kolonialherren an allen Fronten, gelockt vom Versprechen, der Kriegsdienst sei die Pforte zur Gleichberechtigung. Wenn Sie das Herz eines Senegalesen gewinnen wollen, dann fragen Sie ihn nach dem Schicksal dieser Veteranen.

Jeden Morgen proben Dakars Vororte den Sturm auf das Zentrum, auf diese Enklave von feinen Galerien, klimatisierten Geschäften und kolonialer Erinnerung. Jeden Morgen stopft sich Grand Dakar in grell bemalte Kleinbusse; « Bismillah », im Namen Gottes,  schreien die heiteren Karosserie-Gemälde, in Gottes Namen bricht der Bus nicht zusammen. Se débrouiller, sich durchschlagen, das ist Dakars größter Berufszweig, und wenn Sie aus Ihrem Hotel kommen, dann ist die leichtfüssigste Avantgarde von Grand Dakar schon da, hält Ihnen vor die Nase, was Sie heute kaufen müssen : Bügeleisen, Kniebinde, Scrabble, garantiert echtes Chanel No 5, Brühwürfel und einen Slip mit Eingriff, « für Messjöh ».

Dakar ist jung, nur jeder Fünfte ist über 30; die Jugend gibt der Stadt den Rhythmus vor, es ist der Rhythmus des Rap. Wieviele Gruppen gibt es? 3000? 5000? Die Rapper fühlen sich als Sprachrohr all derer, die sich durchschlagen; eine Massenkultur sozialen Protests.

Mamour Fall ist groß und kräftig, ein Bauernsohn. Als Rapper nennt er sich auf Wolof « Kawkaw-b”, « der Dörfler » ; er will unter den Städtern seine Herkunft nicht verleugnen. Mamour ist ein Geläuterter: Dreimal hat er die heimliche Emigration nach Europa versucht, hat 21 Tage Irrfahrt auf dem Meer überlebt; neben ihm im Boot starben seine besten Freunde aus Kindertagen. Mamour fasst den Schrecken in einen einzigen Satz: « Das Meer ist hart, sehr hart”. Den Rap macht er nun als Botschaft: Bleibt hier, stürzt euch nicht in die Boote! Seine Bühne ist die Straße. Manchmal, wenn Marlboro eine Werbeaktion macht oder Nescafé, dann bekommen Rapper wie er ein Mikrophon. Jeden Tag schleppt Mamour einen Sack mit Baobab-Früchten von Haus zu Haus, verkauft sie an Frauen, die daraus Saft machen. Jeden Tag legt er ein paar Münzen zurück; Stück für Stück, unendlich langsam, nimmt er so  sein erstes Album auf. Wie es heißen wird? « Ambition ».

Die Versuchung der Migration, der Sog in die lebensgefährlichen Boote – das Thema ist allgegenwärtig in Dakars kreativer Szene. Darin spiegelt sich auch ein Bruch in der senegalesischen Identität. Die Alten, geprägt durch drei Jahrhunderte französischer Präsenz im Senegal, hatten geglaubt, die kulturelle Brücke nach Europa sei von Dauer. Für die Jungen ist das Boot das Symbol einer gescheiterten Illusion.

Vor dem Eingang des « Kulturzentrums Blaise Senghor » stehen bizarre Riesenfiguren mit langen dürren Armen. Ein Künstler hat sie aus toten Ästen fabriziert, mit viel Gips und Klebeband. « Das Tote ist nicht tot », sagt er, «nicht für uns Afrikaner. » Dies ist das Kulturzentrum der Banlieue, hier kann man ein wenig schnuppern von der Athmosphäre Groß-Dakars. Unter einem Abendhimmel in Rot und Schwarz  beginnt auf der Freilicht-Bühne mit einer exstatischen Trommlergruppe ein Breakdance-Wettbewerb. Das Publikum bemüht sich mit feierlichem Ernst, so cool und super-schlaksig zu wirken wie die Tänzer auf der Bühne. Sie kommen aus verschiedenen Ländern Afrikas; der Tanz, ruft ein Moderator pathetisch, solle « die Jugend stabilisieren im Schoße unseres Kontinents ». Wer tanzt, der bleibt – und geht nicht ins Boot.

 Musik ist im Senegal ein Grundnahrungsmittel, die musikalische Kreativität eine nie versiegende Ressource. Musik ist Ausdruck von Lebenslust, Musik ist Ventil für den Frust - und sie birgt die Hoffnung, aufzusteigen, ein Star zu werden. Und wer es geschafft hat, wer längst seine Platten hat in der Welt, tritt weiter auf in Dalkar, sogar auf kleinen Bühnen. Eine Geste der Treue.  

Der Club « Pen Art » ist verraucht, das Mobiliar hat den Charme der 80er Jahre, das Stammpublikum ist auch nicht mehr ganz jung; jeder scheint jeden zu kennen. Auf der engen Bühne zahllose Trommeln und Schlagzeug-Utensilien unterzubringen, das dauert eine afrikanische Ewigkeit; Dakars Nachtleben ist nichts für schnell Ermüdende. Um 1 Uhr dann: Unvermittelt beginnt Cheikh Lo hinter dem Tresen der Bar zu singen, schiebt sich langsam zur Bühne hin, ein dürres Männchen in weißer Tunika, mit Dreadlocks bis zum Gürtel. Nun steht er hinter seinen Trommeln wie ein magerer Koch an seinen Töpfen, rührt seine Mischung, einen sanften synkopischen Mbalax mit viel afro-brasilianischen Zutaten.

Wie aber das Lächeln dieses Mannes beschreiben? Es ist wie ein Fenster zu einem ganz hellen, heiteren Glück. Cheikh Lo ist ein tief religiöser Muslim. Seine Dreadlocks sind das Erkennungszeichen einer senegalesischen Bruderschaft; die hatte die Filzlocken schon, bevor sie mit dem Reggae populär wurden.

Ein muslimischer Musikstar vor einem Publikum mit Bierflaschen auf den Tischen – eine westafrikanische Nacht. 

Übrigens wurde nicht getanzt. Bei Live-Musik hört man zu, getanzt wird in der Disco, so lautet die Regel. Doch Sie können sich gerne vor die Band stellen und einen Moment erotisch die Hüften kreisen lassen; das gilt als Kompliment für die Musik…

Unnachahmbar indes die stolze Kopfhaltung, die in Dakar ganz unterschiedliche Frauentypen vereint, die knapp bekleideten Ultraschlanken mit jenen großen Mamas, die in einer Woge von Stoff und Hochmut heranrollen. In Literatur, Film, Politik waren Senegalesinnen oft Pionierinnen ; sie wußten Courage und Eleganz zu vereinen. Manchmal verrät ein glänzenden Auftritt allerdings auch eine tief verinnerlichte Konkurrenz: Viele Ehen sind polygam.

Im Trubel der Rue Thiong ist der schmale Eingang zum Reich der Modeschöpferin Oumou Sy leicht zu übersehen. Hinter dem Schild « Metissacana » zunächst ein Café mit Modefotos und ein Restaurant; in den oberen Stockwerken Ateliers und eine Mode-Schule. Plötzlich steht Senegals bekannteste Designerin unerwartet vor einem, eine feingliedrige Frau in einer federleichten orangefarbenen Robe, die nur entfernt afrikanisch wirkt - und vielleicht gerade deshalb illustriert, was das Wort Metissacana bedeutet: Der kulturellen Vermischung gehört die Zukunft. « Senegal ist kosmopolitisch », sagt Oumou Sy, « ein Land am Meer, wir waren geistig nie eng, nie eingekesselt ». In ihrer Designschule lernen junge Leute aus Afrika und Europa die fruchtbare Mischung von nördlichen und südlichen Techniken und Stilen.

Oumou Sy, nun 56, hat sich bei allen Kulturen der Welt bedient, sie besitzt Modesalons in Paris, London und Genf – und ist dabei Analphabetin geblieben. Eine Autodidaktin, selbstbewußte Tochter des Nomaden- und Hirtenvolkes der Peul aus dem Norden. Mode in Afrika zu produzieren, das ist für Oumou Sy auch Kampf um Identität auf einem Kontinent, der von westlichen Secondhand-Klamotten überschwemmt ist. «Wir müssen der Kleidung der Afrikaner ihre Würde zurückgegeben. »  -

Winzig liegt die Insel Gorée im Meer, kaum 20 Fährminuten von Dakar entfernt. Hier begann die europäisch-afrikanische Beziehungsgeschichte, im Jahr 1445, mit der Landung der Portugiesen. Eine Handvoll felsiges Land, ein sicherer Ankerplatz – so wurde Gorée zum Zwischenlager für den Sklavenhandel. Franzosen, Engländer, Niederländer, alle rissen sich um das strategische Inselchen. Unschuldig schiebt sich seine Silhouette heran, die Häuser am Hafen grüssen in mediterranem Farbenspiel, ocker, terrakotta, sienarot. Bougainvillea wuchern leuchtend über schmale Gassen, Kopfsteinplaster glänzt im Sonnenlicht. Die schönen Häuser, sie dienten alle dem Sklavenhandel: Im stickigen Erdgeschoß wurden Menschen und andere Waren gelagert, in der Beletage wohnten die Herrschaften.

Das Museum  Maison des Esclaves  ist ein Originalschauplatz. Weltberühmt « die Tür ohne Wiederkehr », eine steinernde Pforte zum Meer, der Atlantik glitzert bis zum Horizont. Wer durch diese Tür auf ein Schiff gestossen wurde, « hatte den Blick auf die Unendlichkeit seines Leidens », steht auf einem handgeschriebenen Zettel an der Steinwand. « Sie nahmen immer die Größten und Stärksten », sagt der Museumsführer, « darum sind die besten Baseball-Spieler heute in den USA. Aber wir im Senegal, wir haben die Künstler. »

Gorée, als Weltkulturerbe anerkannt, versucht heute eine neue Rolle zu spielen, will Symbol sein für Kulturaustauch und Konfliktlösung. Sichtbares Zeichen dafür ist das Gorée-Institut, in stattlichem Rot steht es neben dem winzigen Polizeiposten. Anfang der 90er Jahre trafen sich auf Gorée heimlich die Anti-Apartheit-Kämpfer Südafrikas ; daraus entstand eine neue Tradition: auf der Sklaveninsel Modelle für Demokratie und Frieden zu entwickeln. Das Institut wird von Breyten Breitenbach geleitet, dem südafrikanischen Schriftsteller.

Gerade treffen sich Kinder auf der Insel, Kinder und Jugendliche aus ganz Afrika und aus der schwarzen Diaspora. Ein Seminar für die Elite von morgen. Atemlos hören sie von Mamour Fall, dem Rapper aus Dakar, die Geschichte seiner lebensgefährlichen Überfahrten. Auch die Schriftstellerin Aissatou Cissé ist gekommen. Sie hat einen Roman geschrieben über die imaginäre Rückkehr schwarzer Amerikaner nach Gorée. Madame Cissé kann sich kaum bewegen; schwerst behindert sitzt sie in ihrem Blumenkleid im Rollstuhl, klein, die Füsse verkrüppelt. Aber aus ihrer Fröhlichkeit strahlt immense innere Kraft. Sie begann mit 18 Jahren zu schreiben, aus Wut über die Polygamie in der Familie ihrer besten Freundin. Nun hat sie Mamour, diesen großen kräftigen Rapper, unter ihre Fittiche genommen, hilft ihm, sich selbst und seine Ambition zu finden.

Abends, wenn die Inselbewohner unter sich sind, senkt sich Stille über Gorée. Ein kostbarer Moment der Ruhe, Erholung vom Ansturm der Eindrücke. Leise klatschen die Wellen ans Ufer; irgendwo wird getrommelt. Zum Glück haben sich die Leute von Gorée gegen einen Plan der Regierung gestemmt, auf dieser Handvoll Land ein Luxushotel zu bauen. Bisher hängt nicht einmal eine Klimaanlage an den Fassaden der einstigen Sklavenhäuser. –  

Vier Stunden dauert die Fahrt im Sammeltaxi von Dakar nach Saint-Louis, oben im Norden, an der Grenze zu Mauretanien. Es ist besser, mit der Abendsonne anzukommen, wenn das Licht der schütteren, verfallenen Schönheit von Saint-Louis schmeichelt. Dann gehen die Laternen an auf der Brücke, die Gustav Eiffel über den Senegal-Strom baute, und auch der Rost, der tagsüber von den Eisenstreben zu tropfen scheint, fügt sich harmonisch in die Farben der Dämmerung.

Dakar, Gorée, Saint-Louis, das ist ein Dreisprung durch Kultur und Geschichte, nicht nur des Senegal, sondern des frankophonen Afrika. Saint-Louis war die erste französische Siedlung auf dem Kontinent, gegründet vor genau 350 Jahren. Alles begann wiederum mit einer Station für den Sklavenhandel, furchtsam auf einer langgezogenen Insel mitten im Senegal-Strom plaziert. Später wurde daraus die Hauptstadt von ganz Französisch-Afrika und das Labor für eine sich entwickelnde Nation. Die Saint-Louisaner waren formell Franzosen, wurden selbstbewußte Bürger, schickten den ersten schwarzen Abgeordneten ins Pariser Parlament.

Heute ist Saint-Louis eine Stadt mit einer bizarren, einzigartig dreigeteilten Geografie: Auf dem Festland das kommerzielle Zentrum, geschäftig und lärmend; auf einer 30 Kilometer langen Landzunge am Meer die Fischer, nur der See zugewandt und ein wenig fremdenscheu. Und dazwischen, umarmt vom braunen Strom, die historische Ile: mit 1344 unter Schutz stehenden Gebäuden ein Weltkulturerbe von morbidem Charme.

An der Spitze derer, die engagiert um seinen Erhalt kämpfen, steht eine junge Frau mit roter Brille. Fatima Fall, diplomierte Denkmalschützerin, stellt morgens oft nur schnell ihre Tasche ab neben ihrem Schreibtisch im Museum und läuft gleich wieder los, weil sie vom drohenden Abriß eines historischen Balkons oder gleich eines ganzen Hauses erfahren hat. Ignoranz und Armut sind die Feinde des Erbes, sagt sie. Sie hat einen Verein gegründet, der im Ausland Geld anwirbt für die Restaurierung.

Jedes Jahr im Mai zieht das Jazz-Festival Musiker und Fans aus der ganzen Welt nach Saint-Louis. Der Jazz paßt gut hierhin, in diese Athmosphäre, in die lässige Melancholie. Die Gerippe der Bänke am Quai verraten noch die Eleganz früherer Tage. Wo einst Westafrikas erste Straßenlaternen die Überlegenheit europäischer Zivilisation zeigen sollten, reiben sich nun die mageren Ziegen des Sahel an den Mauern.

Geschichte in einem verwitterten Bilderrahmen: die Eigentümer eines Hauses liegen darin in Sepia-Schichten übereinander. Der Älteste im prächtigem Bubu[, dem weiten afrikanischem Gewand ; ein Nachfahre dann im engen europäischen Anzug der Assimilierten. Er war ein Dichter, starb in Paris.

Heute sind die Anzüge auf der Ile wieder verschwunden.  Durch die Blaise-Diagne-Straße kommen vier Männer vom Gebet in der Moschee; im schönsten Licht des späten Nachmittags glänzen ihre Bubus in Blau, Ockergelb, Violet und Weiß. Die Männer gehen so langsam, wie vielleicht nur Afrikaner gehen können. Fast unbeweglich stehen die Farbflecke im Licht.

 

 

 

 

 

 

 


[1] auch Boubou geschrieben